So will ich schweigen
noch kaum kannte – oder ob ihr Mitgefühl überhaupt willkommen wäre.
Als das Essen fertig war, rief Rosemary die Kinder, während Hugh sich taktvoll bereit erklärte, Caspar zu holen. Juliets Mann war erst aufgetaucht, nachdem alle anderen sich schon zu Tisch gesetzt hatten, und hatte seinen Platz am Kopfende mit dem Gebaren eines bockigen Kindes eingenommen. In seinem Essen hatte er nur herumgestochert, dafür aber reichlich Punsch in sich hineingeschüttet – eine Kombination, die in Gemmas Augen kaum geeignet war, die Situation zu entschärfen.
Das Essen – eine Schinkenplatte, gefüllte Truthahnbrust und eine Auswahl wunderbarer Salatkompositionen – war köstlich, aber nach der Begeisterung zu urteilen, mit der die Runde es sich einverleibte, hätte es ebenso gut Sägemehl sein können. Sogar die Kinder waren merkwürdig still, und Gemma fragte sich, ob Lally ihnen wohl erzählt hatte, was sie im Treppenhaus gehört hatte.
Duncan und seine Eltern mühten sich wacker, das Gespräch in Gang zu halten, doch nachdem auch der letzte Versuch, Caspar und Juliet einzubeziehen, gescheitert war, verfiel Hugh darauf, ihnen in aller Ausführlichkeit zu schildern, wie er an die seltene Ausgabe von Dickens’ Weihnachtserzählungen gekommen war.
Sobald der Anstand es zuließ, das Abendessen für beendet zu erklären, hatte Caspar sich wieder in sein Zimmer verkrochen, und Lally hatte gefragt, ob sie mit Kit vorausgehen dürfe, um für die ganze Familie Plätze in der Kirche zu reservieren. Juliet war einverstanden, und zu Gemmas Überraschung schien Sam nichts dagegen zu haben, mit Toby zurückzubleiben. Duncan hatte sich erboten, seiner Mutter und seiner
Schwester beim Abwasch zu helfen, und sogleich voller Tatendrang die Ärmel hochgekrempelt.
Jetzt nahm Hugh Gemmas Arm und steuerte sie nicht etwa zum Wagen, sondern zu dem dunklen Pfad, der vom Tor wegführte.
Gemma ließ sich widerstrebend von ihm führen. »Ist das auch …? Ich meine, bist du sicher, dass das nicht gefährlich ist?«
»Gefährlich?« Hugh blickte überrascht auf sie herab. »Na ja, könnte sein, dass uns ein bisschen was von diesem weißen Zeug da in den Kragen rieselt, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass wir überfallen und ausgeraubt werden, wenn du das meinst.« Er lächelte. »Wir sind hier schließlich in Nantwich und nicht in London, und die North Crofts ist eine ruhige Straße in einer sehr respektablen Wohngegend.«
»Straße?«, wiederholte Gemma verwundert, nachdem sie sich ein wenig umgesehen hatte. Der schmale Weg, nur für Fußgänger zugänglich, war auf der rechten Seite durch einen Zaun begrenzt; die Häuser zur Linken standen etwas zurückgesetzt hinter kleinen, schmalen, mit Mauern eingefassten Gärten. Hier und da war in einem Fenster Licht zu sehen; ansonsten schien alles menschenleer wie eine Mondlandschaft. »Nur mit dem Einkaufen ist es hier wahrscheinlich ein bisschen schwierig«, meinte sie, und ihre Stimme klang in der verschneiten Stille seltsam gedämpft.
Hugh kicherte. »Da hört man die waschechte Londonerin heraus. Aber hinter den Häusern verläuft eine Gasse, über die man sowohl die North Crofts als auch die South Crofts erreicht. Die Häuser in der South Crofts haben sehr schöne viktorianische Dekorationen – Buntglasfenster und Mosaikfliesen.«
Nach kurzer Zeit machte der Weg eine Biegung nach links – der äußerste Punkt des Hufeisens, das von den beiden Straßen geformt wurde, wie Hugh erklärte. Tatsächlich kamen sie
gleich darauf an der Einmündung der Gasse vorbei, von der er gesprochen hatte. Wieder lenkte Hugh sie mit sanftem Druck in eine andere Richtung, diesmal auf den Eingang eines dunklen Tunnels zu, dessen Dach aus dichtem Laubwerk gebildet wurde. Hier war die Schneedecke dünner, aber die Fußspuren waren in der feinen Pulverschicht unschwer zu erkennen.
»Ein Abkürzung für Fußgänger«, erklärte er. »Verbindet die Crofts mit der Stadtmitte. Die Kinder sind sicher auch diesen Weg gegangen.«
Gemma duckte sich und zog den Mantelkragen hoch, als ein Klumpen Schnee von den überhängenden Zweigen fiel. »Jetzt kommen wir in die Monk’s Lane«, erklärte Hugh, als sie aus dem Tunnel heraustraten. »Hier stehen einige sehr schöne georgianische Häuser.« Gemma blickte in die Richtung, in die Hugh deutete, aber wiederum war ihr die Sicht durch eine Mauer verstellt. Mauern, Tunnel, Geheimnisse und dann diese Totenstille, die alles umfing – Gemma war sich nicht so sicher, ob
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