So will ich schweigen
ist perfekt. Einfach nur perfekt. Eine lebende Weihnachtskarten-Idylle!«
»Ja, es ist wirklich ganz nett«, bestätigte Hugh, und der Stolz in seiner Stimme spiegelte ihre Begeisterung. »Das ist das Crown Hotel.« Er deutete auf einen besonders eindrucksvollen Fachwerkbau. »Erbaut 1585, nach der großen Feuersbrunst. Es ist berühmt für seine durchgehenden Fenster im Obergeschoss. Und da lang geht’s zur Pillory Street und zum Buchladen.« Er trieb sie weiter, und kurz darauf drückte sie schon die Nase an ein Schaufenster in einer architektonisch nicht ganz so bemerkenswerten Ladenfront. Im schwachen Schein der Innenbeleuchtung konnte sie Reihen von einladend präsentierten Büchern ausmachen.
»Du magst doch Bücher?«, fragte Hugh unvermittelt und runzelte die Stirn.
»Doch, doch«, antwortete Gemma lachend. »Aber ich bin nicht damit aufgewachsen, also habe ich nicht so furchtbar viel gelesen. Anders als Duncan. Und mit meinem Job und den Kindern …«
»Ich hatte schon befürchtet, dass ich dich vielleicht gelangweilt habe mit meinem Sermon beim Abendessen.«
»Überhaupt nicht. Wirst du ihn behalten – den Dickens?«
»Es ist verlockend«, gab Hugh mit einem Seufzer zu. »Aber er ist sehr wertvoll, und es sind solche Fundstücke, die einem helfen, die Rechnungen zu bezahlen. Außerdem geht es doch mehr um den Fund an sich – den Reiz der Entdeckung.«
Gemma dachte an den Moment der Erleuchtung, wenn die Puzzleteilchen eines Falls sich zusammenfügten, und sie konnte sich vorstellen, dass der Augenblick, in dem einem klar wurde, dass man ein ganz besonderes Buch in Händen hielt, etwas Ähnliches war. »Das kann ich verstehen.«
Hugh musterte sie nachdenklich. »Ja, ich glaube, das kannst du. Für Duncan und Juliet sind Bücher eine Selbstverständlichkeit. Sie haben von Kindesbeinen an damit gelebt. Aber meine Eltern hatten bloß einen Zeitungsladen in einer
schottischen Kleinstadt, und die aufregendsten Druckwerke, die ich – von den Zeitungen abgesehen – zu Gesicht bekam, waren Comics und das eine oder andere Groschenheft. Aber ich war ein guter Schüler und durfte aufs Gymnasium. Mein Englischlehrer hat mein Interesse an Büchern gefördert, und ich habe nie vergessen, was das für ein Gefühl war, als ich entdeckte, wie viele Welten nur darauf warteten, von mir entdeckt zu werden, mehr Welten, als ich im Leben je erforschen könnte …« Er brach ab und sah ein wenig verlegen drein. »Oje, jetzt bin ich schon wieder ins Schwärmen geraten. Eine schlechte Angewohnheit – aber ich habe auch selten eine so geduldige Zuhörerin. Und wenn ich so weitermache, kommen wir noch zu spät«, fügte er mit einem Blick auf seine Uhr hinzu. »Es ist schon fast elf. Wir sollten lieber umkehren. Ich zeig dir den Laden morgen, falls die Zeit es erlaubt, oder übermorgen.«
Sie waren beide still, als sie zur High Street zurückgingen, aber jetzt empfand Gemma das Schweigen als angenehm. Sie hatte unerwartete Gemeinsamkeiten mit Hugh entdeckt.
Der Marktplatz begann sich mit Menschen zu füllen – Gemma nahm an, dass sie alle zur Mitternachtsmesse in St. Mary’s gekommen waren. Hugh wollte sie gerade über die High Street führen, als sie aus dem Augenwinkel ein Licht aufflackern sah. Es war aus der Richtung des Crown Hotel gekommen – vielleicht ein Streichholz oder ein Feuerzeug, dachte sie, während sie sich umdrehte. Einen Moment lang waren die Silhouetten von zwei – nein, drei – Gestalten in einem Torbogen neben dem Hoteleingang zu erkennen. Teenager, da war Gemma sich ziemlich sicher, nach ihren schlaksigen Figuren und ihrer provozierend lässigen Haltung zu urteilen. Und irgendwie hatte es auch etwas Verstohlenes gehabt, dachte sie, wie die drei in dem Torbogen – anscheinend handelte es sich um die ehemalige Kutscheneinfahrt – verschwunden
waren. Oder lag es nur daran, dass sie vergessen hatte, ihren Beruf in London zu lassen?
Sie zuckte mit den Achseln und wandte sich ab – es ging sie schließlich nichts an, was die Jugendlichen hier trieben -, aber dann hielt sie inne und sah noch einmal hin. Das Mädchen – ja, sie war sich sicher, dass eine der drei Gestalten ein Mädchen gewesen war – hatte dunkle Haare gehabt, der Junge, den sie am deutlichsten gesehen hatte, war blond. Lally und Kit? Aber sie waren in der Kirche, sagte sie sich, und der Junge war zu groß und zu dünn gewesen. Und Kit hätte auch niemals geraucht – er hasste es wie die Pest. Ihre Fantasie ging wohl wieder
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