Socrates - Der friedvolle Krieger
drei Mysterien. Die Luft ist ein Mysterium für die Vögel, das Wasser ein Mysterium für die Fische und der Mensch ist sich selbst ein Mysterium. ‹«
Er lachte, bevor er weitersprach. »Gott ist das größte Mysterium von allen und doch ist er uns so nahe wie unser Herzschlag oder unser nächster Atemzug. Er umgibt uns wie Luft, wie Wasser. Er ist immer da, aber der Verstand kann ihn nicht erkennen. Das kann nur das Herz und nur im Herzen wirst du deinen Glauben wiederfinden.«
»Ich habe schon vor Jahren aufgehört zu glauben.«
»Gott liebt auch die, die nicht an ihn glauben. Wie sollte es auch anders sein?«
Seraphim sah Sergej tief in die Augen und sagte leise: »Gib dich dem Mysterium hin, Socrates. Vertraue ihm. Teile die Welt nicht länger ein in das, was sein soll, und das, was nicht sein soll. Dann wirst du den Glauben wiederfinden.«
»Ihre Worte haben immer wahr geklungen, aber ich begreife sie trotzdem nicht.«
»Es gab eine Zeit, da konntest du nicht einmal meine Kutte ergreifen. Und schau, was du mit ein wenig Geduld alles erreicht hast …«
»Und mit viel Übung.«
»Ja, vielleicht ist es nun an der Zeit, etwas anderes zu üben.« Er hielt einen Moment inne, als ob er nach den richtigen Worten suchte. »Socrates, dein Training hat dir die Grenzen des Verstandes aufgezeigt. Der Intellekt ist zwar eine Leiter, die in den Himmel führt, aber nicht ganz bis zu Gott reicht. Nur die Weisheit des Herzens kann dir den Weg zeigen. Der Mann, nach dem du benannt bist, erinnerte die Jugend Athens immer wieder daran, dass Weisheit damit beginnt, dass man anfängt zu staunen.«
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«
»Was soll irgendjemand tun? Setze einen Fuß vor den anderen. Du bist lediglich ein Spieler in einem Drama, das so groß ist, dass nur Gott es verstehen kann. Und manchmal bin ich mir nicht einmal sicher, dass Gott es verstehen kann.«
Er lachte herzhaft und als er sich beruhigt hatte, fuhr er fort: »Du kannst nur die Rolle spielen, die dir zugeteilt wurde, mein junger Freund. Aber so viel will ich dir verraten: Alle, die dir in deinem Leben begegnen, gleich ob sie dir helfen oder dir Schaden zufügen, wurden dir von Gott gesandt. Begegne allen mit einem friedvollen Herzen und dem Geist eines Kriegers. Du wirst oft versagen, aber indem du versagst, lernst du, und indem du lernst, erlangst du Weisheit. Inzwischen gib dich Gottes Willen hin, gib dich dem Leben hin, das dir geschenkt wurde.«
»Und woher weiß ich, was Gottes Wille ist, Vater Seraphim?«
»Der Glaube hängt nicht davon ab, ob man etwas sicher weiß«, antwortete dieser. »Du brauchst nur den Mut aufzubringen, zu akzeptieren, dass alles, was geschieht, nur zu deinem Besten geschieht.«
Mit diesen Worten waren sie wieder in der Einsiedelei angekommen.
35
D ie Jahre hatten es nicht gut gemeint mit Dimitri Sakoljew. Und die Nächte hatten ihm schon lange keinen erholsamen Schlaf mehr geschenkt. War er früher einmal schlank und sehnig gewesen, so war er nun hager und ausgezehrt. Mit seinen eingefallenen Wangen sah er aus wie ein wandelnder Leichnam. Seine Augen leuchteten - wenn nicht vor Wahnsinn, so doch vor dem Eifer, mit dem er sein einziges Ziel unbeirrbar verfolgte. Es schien, als ob seine einst so großartige Vision nun zu einem einzigen Punkt zusammengeschrumpft war: Paulinas Training.
Paulina war in diesem Sommer des Jahres 1906 immer noch schlank und drahtig und während sie heranreifte, nahmen sowohl ihre Energie als auch ihre Bewusstheit immer mehr zu. Alle, die sie beobachteten, waren über die Fortschritte, die sie machte, mehr als erstaunt. Alle konnten sehen, dass der große Jergowitsch ihr ein guter Lehrer gewesen war.
Aber Sakoljew traute dem Bären nicht mehr; außer seiner Tochter traute er überhaupt niemandem mehr. Auch Korolew war ihm nicht mehr geheuer, denn er hatte gesehen, wie der Riese verächtlich das Gesicht verzog und sich umdrehte, wenn er sich ihm näherte. Nicht nur Korolew, sondern alle im Dorf wussten, dass er endgültig verrückt geworden war. Sakoljew hörte, wie sie hinter seinem Rücken im Flüsterton über ihn redeten.
Seine einzige Hoffnung jemals Frieden zu finden, lag auf den Schultern seiner Tochter. Er sah ihr täglich stundenlang beim Training zu, aber während er dasaß, kehrte sich seine Aufmerksamkeit nach innen. Die äußere Welt verschwand und verschwommene Bilder und Geräusche nahmen ihre Stelle ein: Worte, Schreie, Leichenberge und überall Blut.
Er riss sich
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