Socrates - Der friedvolle Krieger
vielen Jahren Mönch wurde, war ich Soldat, Socrates. Ich sah und tat Dinge, die man nicht mehr vergisst. Ich habe in furchtbaren Schlachten gekämpft und Schreckensbilder gesehen, die kein Mensch sehen sollte.«
Er lächelte, als er fortfuhr. »Auf der Suche nach Frieden und nach einem tieferen Sinn reiste ich nach Osten. Ich besuchte viele Länder und lernte, dass es verschiedene Wege zu Gott gibt. Ich lernte auch, dass all diese Wege gut sind, wenn sie dich dazu bringen, ein besseres Leben zu führen. Ich habe mich für den christlichen Glauben entschieden, aber ich habe die Gaben, die mir die anderen Religionen gegeben haben, nicht vergessen. Alle Religionen sind Teil eines großen Weges, Socrates.«
»Ich entdeckte, dass ich schon immer bestimmte Gaben hatte, dass mir aber bestimmte Praktiken geholfen haben, sie zu entwickeln. Die eine Gabe ist die Fähigkeit zu heilen. Schon als Junge spürte ich die Energie, die durch meine Hände floss. Ich glaube, sie stammt aus einer höheren Quelle. Meine andere Gabe ist die der Vorausschau. Ich vergleiche sie gern mit einer Blüte, die sich öffnet, wenn das Licht darauf scheint. Ich sehe Dinge, manchmal in Träumen, manchmal in tiefer Versenkung. Daher weiß ich manche Dinge, aber ganz sicher kann ich mir nie sein.«
»Ich habe mich schon immer gefragt, was diese Fähigkeit wohl ausmacht.«
»Um die Gabe zu verstehen, musst du sie erfahren. Wenn du dich Gott öffnest, weißt du alles, weil du alles bist . Du entdeckst, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alle jetzt stattfinden. Deshalb sehe und weiß ich manchmal Dinge.«
»Haben Sie auch gesehen, was mir die Zukunft bringen wird?«
»Ich sehe, was sein könnte , nicht was sein muss . Was du jetzt in diesem Augenblick tust, wird deine ganze Zukunft verändern. So machtvoll ist der freie Wille.«
»Können Sie mir denn gar nichts sagen?«
Seraphim überlegte sich seine nächsten Worte gut. »Mit jeder spirituellen Gabe wächst auch die Verantwortung. Meine Visionen sind dazu da, Rat zu erteilen, und nicht um Vorhersagen zu machen. Wenn ich dir sagen würde, was ich gesehen habe, dann könnte es dir helfen oder dir schaden. Und ich bin nicht weise genug, um zu wissen, was von den beiden es sein wird.«
Nach einem Augenblick fuhr er fort: »Auf jeden Fall könnte es sich auf deine Bestimmung auswirken. Was, wenn ich gesehen hätte, dass du deine Gegner besiegst? Hättest du dann all die Jahre trainiert? Was, wenn ich dich tot gesehen hätte? Hättest du dann deine Pläne geändert?«
Wieder sah Seraphim Sergej auf diese durchdringende Weise an. »Ich verstehe nicht immer, was ich sehe, Socrates. Ich kann dir nicht sagen, ob du diese Männer töten oder ihnen vergeben wirst.«
»Ihnen vergeben? Erst schicke ich sie zur Hölle!«
»Sie befinden sich bereits in der Hölle.«
»Das ist doch keine Entschuldigung!«
»Natürlich nicht«, antwortete Seraphim. »Es gibt für nichts eine Entschuldigung. Und meistens kann ich nicht einmal eine Erklärung finden. Aber eines Tages wirst du erkennen, dass diese Männer alle ein Teil deines größeren Selbst sind. Dann wird sich dir alles offenbaren. Du wirst vielleicht gegen sie kämpfen müssen, aber du wirst wissen, dass du im Grunde mit dir selbst kämpfst.«
Wieder ging der alte Mönch vor Sergej auf und ab. »Was ich dir jetzt erzählen werde, habe ich noch keinem Menschen erzählt, Socrates. Aber es dient einem guten Zweck und wird dir helfen zu verstehen. Auch ich war einmal verheiratet und hatte drei Kinder. Sie liegen nun in derselben Erde begraben wie deine Frau und dein Sohn. Als ich fort war und Schlachten schlug, wurden sie zu Hause von Banditen ermordet.«
Ein oder zwei Minuten lang herrschte Stille, die nur vom Gesang eines Vogels unterbrochen wurde. Dann fuhr der alte Mönch fort: »Wie du so schwor auch ich, dass ich die Männer finden würde, die dieses Verbrechen begangen hatten, Socrates. Und wie du so habe auch ich mich auf diesen Moment vorbereitet.«
»Haben Sie …?«, fragte Sergej.
Stille. Dann antwortete Seraphim: »Ja, ich habe sie einen nach dem anderen getötet.«
Ergriffen von der tragischen Gemeinsamkeit, holte Sergej tief Luft und sagte mitfühlend: »Als Sie entdeckten, was mit Ihrer Familie geschehen war, war das Ihre dunkelste Stunde?«
Seraphim schüttelte den Kopf. »Zuerst dachte ich, sie wäre es, aber es war nicht so. Meine dunkelste Stunde begann im Moment meines Sieges, nachdem ich die Männer abgeschlachtet hatte.
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