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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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Situation zu machen. Er bewegte sich langsamer und absichtsvoller als je zuvor, obwohl es ihm sinnlos vorkam und ihn ungeheuer frustrierte. Dennoch folgte er den Bewegungen seines Meisters, bis der Aufwärtshaken, den dieser Minuten zuvor begonnen hatte, endlich bei ihm angekommen war.
    Da er sich so langsam bewegte, bemerkte Sergej plötzlich Stellen im Körper, in denen er noch Spannung hielt, und ließ nun bewusst los - in den Schenkeln, im Bauch, in den Schultern, einfach überall.
    Als die erste Bewegung abgeschlossen war, begann Seraphim eine neue - obwohl das nur schwer zu erkennen war. Entnervt brach Sergej das Schweigen: »Seraphim, ich verstehe ja, warum wir uns langsam bewegen, aber warum so langsam? Sie bewegen sich doch kaum. Ich könnte bei jedem dieser Angriffe vorher noch zum Abwaschen und Kochen gehen und zurück sein, bevor mich Ihr Schlag trifft.«
    »Entspanne dich, atme und beobachte«, wiederholte Seraphim. »Bewege dich so wie ich.«
    Und so übten sie weiter, bis die Dämmerung hereinbrach.
     
    Die Zeit schien stillzustehen, während sie weiter übten. Wochen- und monatelang taten sie nichts anderes, aber endlich veränderte sich die Geschwindigkeit von Seraphims Angriffen. Nun bewegten sie sich wie durch klebrige Melasse, aber zumindest war die Bewegung jetzt wahrnehmbar.
    Nun ermöglichten es ihm ausgerechnet die Übungen, die Sergej am Anfang so unsinnig vorgekommen waren, Unausgewogenheiten, die ihm vorher nie aufgefallen waren, zu erkennen und zu korrigieren und sich in der Bewegung noch tiefer zu entspannen als bisher. Sein Körper reagierte völlig natürlich und ohne jede Anstrengung auf alles, was auf ihn zukam. Sergej musste zugeben, dass seine Aufmerksamkeit ungeahnte Ausmaße angenommen hatte, weil sein Geist jede Zelle seines Körpers erfüllte.
    Sergej konnte die Beziehung aller Körperteile zueinander wahrnehmen, er spürte selbst seine inneren Organe, die Knochen und Gelenke. Er nahm auch die Energieströme wahr, die aus der Erde durch seinen und Seraphims Körper flossen. Beine und Arme waren nun nichts weiter als Verlängerungen der Körpermitte.
    Manchmal flüsterte Seraphim ihm Dinge zu wie: »Bewege dich wie die Algen … schwebe … steig auf … sinke … drehe dich.« Aber meistens übten sie in vollkommener Stille, denn Worte waren nicht mehr nötig. Die Bewegungen wurden zu tiefer Meditation und gelegentlich - wenn die Energie Sergejs Herz berührte - zum Gebet.
    In den folgenden Monaten ging es auf diese Weise immer weiter. Seraphim griff langsam und mit fließenden Bewegungen an. Auf einen Tritt mit dem Fuß folgte ein Angriff mit dem Knie, dann ein Ellenbogenstoß, ein Schlag mit der linken Hand, dann mit der rechten, auf einen Jab folgte ein Haken, auf einen Cross ein weiterer Tritt und dann ein Hebel. Seraphim griff von allen Seiten und aus jedem möglichen Winkel an, während die Sonne ihre Bahn zog, die Schatten sich veränderten und die Jahreszeiten vorübergingen.
    Gegen Mitte des Sommers nach Tausenden von Attacken dauerte ein Angriff nur noch eine Minute und das Gefühl des Fließens wurde immer stärker. Sergej dachte nicht mehr, er nahm nur noch das Fließen der Energie wahr. Jede Reaktion geschah ganz von allein, als ob Seraphim und er ein einziges Wesen wären, das sich vollkommen mühelos bewegte. Sergej hätte auch im Schlaf so weitermachen können, obwohl dieser Zustand das genaue Gegenteil des Schlafes war: eine totale Bewusstheit, die das abgetrennte Selbst überwunden hatte. Es gab kein Ich mehr: Sergej Iwanow war vergessen.
    Im Herbst dauerte jede Bewegung nur noch fünfzehn Sekunden, dann zehn, dann fünf. Aber Sergej merkte es nicht einmal, denn die Geschwindigkeit war völlig nebensächlich geworden. Was auch immer auf ihn zufloss, wurde absorbiert und umgeleitet. Die Prinzipien, die er gelernt hatte, waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Sein Körper drückte jede Fähigkeit aus, die er sich bisher erworben hatte - und einige neue - aber »er« trug nichts mehr dazu bei.
    Als dann der Winter kam, wurden die Angriffe immer schneller, aber jeder Schlag und jeder Tritt wurden mühelos beantwortet. Sergej tat nichts, außer seine Bewusstheit aufrechtzuerhalten.
    Plötzlich - in einem Augenblick der Erleuchtung - verstand Sergej, wie sich Seraphim bewegte. Er sah nun die Effizienz und die Eleganz der Bewegungen und war wie verzaubert. Aber was noch unglaublicher war, er konnte sie fühlen - und er hatte angefangen, sich mit derselben

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