Socrates - Der friedvolle Krieger
mit einem Ruck aus seinen Wachträumen heraus und erinnerte sich daran, wer und wo er war. Er war zu Tode erschöpft, weil er die Schreie der Frau, die er einmal Mutter genannt und die das Monster zerstückelt hatte, nicht bannen konnte. Ihre Schreie mischten sich mit denen der ermordeten Juden, deren rachsüchtige Geister ihn unbarmherzig verfolgten.
Immer noch führte er persönlich die Überfälle an und befahl alle paar Wochen ein weiteres Gemetzel. Aber selbst dabei wanderte sein Geist unruhig umher und fand nur in dem Gedanken an Paulina so etwas wie Ruhe.
Dimitri Sakoljew hatte all seine Hoffnung und sein ganzes Leben in die Hände dieses Mädchens gelegt, das zur Frau heranreifte und zur Kriegerin ausgebildet wurde. Paulina würde sein Messer, sein Schwert, seine Erlösung sein. Nur ihr Sieg konnte die Schreie zum Verklingen bringen; sie war seine einzige Hoffnung.
36
W ährend der nächsten Tage brachte Sergej viele Stunden in tiefer Kontemplation zu, denn es gab einiges, über das er sich klar werden musste. Daneben machten Seraphim und er lange Spaziergänge, auf denen sie manchmal miteinander redeten, manchmal aber einfach nur schweigend nebeneinander hergingen. Über eines sprachen sie dabei allerdings nie: über das Kämpfen.
Sergejs Fragen konnten auch durch Seraphim nicht beantwortet werden, er musste die Antworten in sich selbst finden. Sollte er an seinem Schwur festhalten? War das Festhalten konsequent, weil er eine Verpflichtung eingegangen war, oder war er einfach nur stur? Würde er sich für den Krieg oder für den Frieden entscheiden? Lag in dem Geschehen ein tieferer Sinn verborgen? Vielleicht waren ja all diese Fragen in Wirklichkeit nur eine einzige Frage. Dann stellte sich Sergej die entscheidende Frage: Würde es Anja glücklich machen, wenn er die Männer tötete oder bei dem Versuch starb?
Sergej war sich nicht mehr sicher und er quälte sich mit Selbstvorwürfen, weil er seinen Schwur möglicherweise nicht würde halten können. Vielleicht hatte Sakoljew ja Recht gehabt, als er ihn einen Schwächling und Feigling genannt hatte. Wenn er sich nun seinen Feinden nicht stellen würde, warum hatte er dann all die Jahre trainiert? Sergej war wie eine geladene Pistole, die darauf wartete, das abgefeuert würde.
Aber Seraphim würde sagen, dass eine Pistole auch wieder entladen und ein gezogenes Schwert wieder in die Scheide zurückgesteckt werden kann.
Da fiel ihm eine Geschichte ein, die ihm Seraphim vor einigen Monaten erzählt hatte und die auch auf seine jetzige Situation angewendet werden konnte. Seraphim hatte von einem jungen stolzen, aber jähzornigen Samurai gesprochen, der es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, Bauern schon beim kleinsten Anzeichen von Respektlosigkeit erbarmungslos niederzustrecken. In jenen Tagen standen die Samurai über dem Gesetz und ein solches Verhalten war durchaus akzeptiert und nicht unüblich.
Aber eines Tages, als er wieder einmal einen Bauern getötet hatte und gerade dabei war, das Blut von der Klinge zu wischen und das Schwert wieder einzustecken, kamen dem jungen Samurai Zweifel, ob die Götter sein Tun guthießen oder ob sie ihn in das Reich der höllischen Wesen schicken würden. Da ihn diese Frage nicht mehr losließ, suchte er einen Zen-Meister namens Kanzaki auf. Mit vollendeter Höflichkeit legte der Samurai sein rasiermesserscharfes Schwert ab, verbeugte sich tief und bat: »Bitte erzählt mir von Himmel und Hölle.«
Meister Kanzaki sah den jungen Mann an und lächelte. Dann begann er immer lauter zu lachen, als ob der Krieger etwas völlig Lächerliches gefragt hätte. Er zeigte mit dem Finger auf den verwirrten Samurai, lachte noch lauter und schrie: »Du hohlköpfiger Sohn eines Hohlkopfs, du wagst es, mich, den weisen Meister Kanzaki, nach Himmel und Hölle zu fragen? Verschwende nicht meine Zeit, du Idiot! Du bist viel zu dumm, um diese Dinge verstehen zu können!«
Der Samurai saß mit hochrotem Kopf da. Jeden anderen hätte er für solche Worte auf der Stelle getötet, aber er bemühte sich, Haltung zu bewahren.
Meister Kanzaki war noch nicht fertig. Etwas leiser sagte er: »Es ist doch offensichtlich, dass weder du noch deine stinkenden Vorfahren jemals über irgendetwas nachgedacht haben. Deine gesamte Ahnenreihe besteht doch nur aus Taugenichtsen und Narren, die so etwas niemals verstehen …«
Nun überkam den Samurai eine mörderische Wut. Er sprang auf die Füße, riss das Schwert aus der Scheide und hob es, um es
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