Socrates - Der friedvolle Krieger
auf den Kopf des Zen-Meisters niedersausen zu lassen.
In diesem Augenblick wies Kanzaki mit dem Finger auf ihn und sagte ganz gelassen: »Jetzt öffnen sich die Tore der Hölle.«
Der Krieger erstarrte. Augenblicklich wurde er erleuchtet und verstand das Wesen der Hölle. Die Hölle war kein Ort, an den man nach dem Tode geschickt wurde, sondern ein innerer Zustand. Er fiel auf die Knie, legte das Schwert neben sich und verbeugte sich tief.
»Meister, meine Dankbarkeit für diese Unterweisung ist grenzenlos. Danke. Danke.«
Der Zen-Meister aber lächelte nur, zeigte wieder auf ihn und sagte gelassen: »Und nun öffnen sich die Tore des Himmels.«
Vielleicht bin ich ja dieser Samurai , dachte Sergej, während er weiter den Garten umgrub.
Am nächsten Tag erzählte Sergej Seraphim sein ganzes Leben von seiner ersten Erinnerung bis zu seiner Ankunft auf Walaam. Als er fertig war, sagte Seraphim: »Deine Geschichte hat gerade erst angefangen, Socrates. Merke dir eines: Deine Vergangenheit muss nicht deine Zukunft bestimmen. Die meisten Menschen tragen ihre Geschichte wie einen Sack mit Steinen auf dem Rücken. Wenn sie alt sind, sind sie nicht nur vom Alter gebeugt, sondern von der Last ihrer Erinnerungen.«
»Heißt das, dass ich meine Vergangenheit einfach vergessen soll?«
»Erinnerungen sind wie verblichene Bilder. Einige lieben wir, andere scheinen wir nicht loswerden zu können. Es gibt keinen Grund, alle wegzuwerfen. Bewahre die, die dir gefallen, an einem sicheren Ort auf, damit du sie jederzeit wieder hervorholen kannst. Aber die Vergangenheit sollte keinen Einfluss auf die Gegenwart haben. Mich interessiert es nicht, woher du kommst, sondern wohin du gehst.«
»Und wohin gehe ich?«, fragte Sergej. »Haben Sie es sehen können?«
Seraphim sah ihn durchdringend an. »Ich habe etwas gesehen, aber wir wollen jetzt noch nicht darüber sprechen. Ich will deine Frage etwas umfassender beantworten: Du kannst sowieso nirgendwo hingehen. Das Hier und Jetzt ist alles, was du hast. Wo du auch immer hingehen magst, so wirst du doch immer ›hier‹ sein.«
»Aber selbst jetzt ist die Vergangenheit doch ein Teil von mir.«
»Ja, aber nur als Erinnerung. Für dich ist es nun an der Zeit, mit dem, was geschehen ist, Frieden zu schließen und zu akzeptieren, was ist. Was geschehen ist, ist geschehen. Alles ist ein perfekter Teil deines Lebens.«
»Perfekt!?«, schrie Sergej wütend auf. »Der Tod meiner Frau und meines Sohnes soll perfekt sein?«
»Beruhige dich, Socrates. Du hast meine Worte anders aufgenommen als sie gesagt wurden. Mit ›perfekt‹ meine ich nicht ›gut‹ oder ›gerecht‹. Ich habe es im transzendenten Sinn gemeint. Es ist perfekt, weil es passiert ist. Und hat es dich nicht zu mir gebracht? Und Gott wird dich auf weitere Reisen schicken, damit du genau das erlebst, was du erleben sollst.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Niemand kann irgendetwas wissen«, antwortete Seraphim. »Ich weiß nicht, ob morgen früh die Sonne aufgeht oder ob ich morgen überhaupt aufwache. Ich weiß nicht einmal, ob Gott mir noch einen weiteren Atemzug gewährt. Deshalb lebe ich im Vertrauen auf Gott und akzeptiere, was immer auch kommen mag. Ob es uns nun willkommen ist oder nicht, ob es nun bitter oder süß ist, alles ist ein Geschenk Gottes.«
»Worte, nichts als Worte. Vielleicht stimmen sie ja sogar. Aber was soll ich mit ihnen anfangen?«
Seraphim begann wieder, auf und ab zu laufen. »Du hast natürlich Recht. Es sind nur Worte. Gehe also über die Worte hinaus an den Ort in dir, der weiß.«
»Was weiß?«
»Dass jeder Tag ein neues Leben ist. Dass du in jedem Augenblick wiedergeboren wirst. Das ist eine Bedeutung des Wortes ›Gnade‹. Es geht nur darum, aufmerksam zu sein und sein Bestes zu geben.«
»Bei Ihnen hört sich alles so einfach an.«
»Es ist einfach, alles andere sind Verkomplizierungen, die wir uns selbst ausgedacht haben. Das heißt aber nicht, dass das Leben leicht ist. Eines Tages wirst du das alles in seiner ganzen Tiefe verstehen und es wird dir so klar sein, dass du vor Freude lauthals loslachen wirst. Ich kann nur ein paar Samen säen, der Rest liegt bei Gott.«
Als Sergej über Seraphims Worte nachdachte, tauchte eine neue Frage auf. Bei der nächsten Gelegenheit, die sich ergab, fragte er ihn: »Seraphim, wie konnten Sie von Anfang an so viele Dinge über mich wissen?«
Der alte Mönch dachte einen Moment lang nach, bevor er antwortete: »Bevor ich vor
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