Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
Vom Netzwerk:
Dann sprudelten die Worte plötzlich aus ihr hervor, als ob sie es ein für alle Mal hinter sich bringen wollte. »Nachdem er uns in den Tunnel geschoben hatte, gab er mir einen Rucksack voll mit Nahrung und mit den neuen Papieren, die dein Großvater uns besorgt hatte. Wir krochen so schnell wir konnten durch den engen Gang. Es war stockdunkel, aber ich wusste, dass er direkt hinter mir war. Dann war er plötzlich weg. Ich hörte nur noch seine Stimme, die schon weit entfernt war. ›Lauft!‹, rief er. ›Wenn es ruhig geworden ist, geht nach Sankt Petersburg.‹ Das waren seine letzten Worte.«
    »Wir warteten über eine Stunde lang im Tunnel. Einmal hörte ich das Donnern von Hufen über uns und Erde fiel von der Decke herab. Dann war alles still. Wie die Maulwürfe hockten wir in der Erde. Wir konnten den Rauch riechen. Ich wusste, dass Benjamin nicht zu uns zurückkehren würde.«
    Ihr Gesicht nahm einen schmerzverzerrten Ausdruck an und sie sprach schnell weiter, als ob sie einen Geist verscheuchen wollte: »Ich wollte ihm hinterherkriechen. Ich wollte ihn anflehen, mit uns zu kommen. Aber ich musste doch an die Kinder denken … An die Kinder …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie stöhnte auf.
    »Kurz vor Tagesanbruch sind wir aus dem Tunnel gekrochen und haben uns durch den Wald geschlichen. Tagsüber haben wir geschlafen und nachts sind wir gelaufen, bis wir nach Sankt Petersburg gekommen sind.«
    Sergej versuchte sich vorzustellen, wie die untrainierten Abramowitschs die vielen Kilometer Fußmarsch bewältigt hatten. Valeria fuhr fort: »Mein Mann hat uns durch seinen Mut und seine Voraussicht das Leben gerettet und dein Großvater hat uns ein neues Leben geschenkt. Wir waren völlig am Ende, als wir hier ankamen. Wir wussten nicht, wohin wir sonst hätten gehen können.«
    »Aber da war mein Großvater doch schon tot«, warf Sergej ein.
    »Ja, aber er hatte alles arrangiert. Weißt du Sergej, seit er mit dir bei uns war, waren wir irgendwie eine Familie geworden.« Sie strich ihm über den Kopf und er fühlte sich einen Moment lang wieder wie der kleine Junge von damals.
    »Die meisten Juden dürfen nur in den Siedlungen leben, die für sie vorgesehen sind - im jüdischen Rayon. Dort im Süden ist das Leben hart und es gibt ständig Pogrome. Mein Mann konnte nicht akzeptieren, dass ihm jemand vorschreiben wollte, wo er leben sollte. Deshalb hat er die Hütte im Wald für uns gebaut. Und Heschel hat ebenfalls einen Weg gefunden. Mit seinem guten Einkommen war es ihm gelungen, weiterhin in Sankt Petersburg zu leben und diese Wohnung zu halten. Die er uns überlassen hat«, fügte sie hinzu.
    »Aber warum habt ihr eure Namen geändert?«
    Valeria lachte bitter auf, als ihr klar wurde, wie wenig Sergej über das jüdische Leben in Russland wusste. »Im Talmud steht geschrieben, dass vier Dinge das Schicksal eines Menschen ändern können: Mildtätigkeit, aufrichtiges Gebet, Änderung des Namens und Änderung des Verhaltens. Nachdem man unsere Hütte niedergebrannt hatte, ließen wir unsere alten Namen und mit ihnen unsere alte Identität zurück. Nun passen wir uns an. Wir gehen sogar in die Kirche. Heschel hatte uns Taufpapiere besorgt, um unsere Verwandlung so echt wie möglich zu machen.«
    »Andreas und Anja halten am jüdischen Glauben fest, aber nur im Geheimen. Sie verstehen, was Heschel für uns riskiert hat - und was es ihn gekostet hat. Sie wissen auch, dass ihr Vater alles für ihre Sicherheit getan hat. Im Herzen sind wir immer noch Sara, die Frau von Benjamin, und seine Kinder Awrom und Leja. Aber du musst uns immer mit unseren neuen Namen anreden, Sergej. Zu deinem und unserem Schutz.«
    Sergej nickte und nahm sich vor, den Rat zu beherzigen, auch wenn es ihm am Anfang sicherlich schwer fallen würde.
    Valerias Gedanken wandten sich wieder der Gegenwart zu. »Heschels Geselle Michail hat Andreas zum Geigenbauer ausgebildet. Andreas ist ernster als sein Vater, ihm aber sonst in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Und Anja hat sich zu einer jungen Frau mit einem guten Charakter und …«
    In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Als Sergej sich umdrehte, sah er einen Engel im Eingang stehen: Es war Anja, die Arme voller Päckchen und die Wangen gerötet vom Treppensteigen.
     
    Anjas Augen waren so grün wie Smaragde und leuchteten von innen heraus. Ihr kastanienfarbenes Haar, das im Sonnenlicht golden schimmerte, umrahmte ein strahlendes Gesicht und fiel über einen langen,

Weitere Kostenlose Bücher