Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
Vom Netzwerk:
drüber. Erst war er enttäuscht, dann fühlte er sich schuldig, weil er enttäuscht war, und schließlich überkam ihn ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Er hatte sich aber mehr erhofft. Aber natürlich, Heschel stellte Uhren her - und Geigen. Und zweifellos war es eine wunderbare Uhr und ein kostbares Geschenk. Sergej hatte nur gehofft, es möge etwas Wertvolleres in der Truhe sein.
    Dann sah er noch etwas anderes: einen kleinen Beutel, der an der Rückseite der Uhr befestigt war. Er schüttelte den Beutel und hörte das Klingeln von Münzen. Schnell öffnete er ihn und nahm fünf Goldstücke und ein Blatt Papier heraus. Aufgeregt entfaltete er das Blatt und sah die akkurate Schrift seines Großvaters. »Für meinen lieben Enkel Socrates«, las er sich selber vor. »Denke immer daran, dass der wahre Schatz im Innern liegt.« Der Brief war unterschrieben mit: »Dein dich liebender Großvater Heschel.«
    Sergejs Augen fingen an zu brennen, bis er den Tränen endlich freien Lauf ließ. Vielleicht weinte er nur, weil er von der langen Reise erschöpft war, aber vielleicht weinte er auch vor Dankbarkeit und vor Sehnsucht, seinen Großvater noch einmal zu sehen. Sergej versuchte sich vorzustellen, wie Heschel wohl gelächelt hatte, als er die fünf glänzenden Goldstücke in den Beutel legte. Fünf Goldstücke waren für einen Jungen, der noch niemals auch nur eine Kopeke besessen hatte, ein unglaubliches Vermögen.
    Sergej hatte keine Ahnung, was irgendetwas kostete. Er konnte sich nicht vorstellen, wie viel die Überfahrt nach Amerika wohl kosten würde, aber er hoffte, dass die fünf Goldstücke dafür reichen würden. Vermutlich waren sie mehr als hundert Rubel wert. Aber er würde arbeiten müssen, um noch mehr Geld zu verdienen, denn er wollte nicht völlig mittellos in der neuen Heimat ankommen.
    Er steckte den Brief und das Gold in die Tasche, stellte die Uhr beiseite und vergrub die Truhe wieder. Aus purer Gewohnheit verwischte er alle Spuren, die seine Anwesenheit hätten verraten können. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Uhr zu. Mit dem hauchdünnen Glas über dem Zifferblatt und dem sorgfältig geschnitzten und polierten Holz war sie ein Meisterwerk. Er drehte sie um, um das Pendel und die Gewichte zu begutachten, als ihm auffiel, dass in das Holz etwas eingeritzt war. Als er den Staub weggeblasen hatte, sah er Buchstaben und Zahlen. Es war eine Adresse, vermutlich die des Ladens seines Großvaters oder seiner Wohnung.
    Sergej wurde von der plötzlichen Sehnsucht übermannt, den Ort, an dem er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte, aufzusuchen. Aber dann dachte er: Meine Erscheinung wird die Leute nur erschrecken. Ich brauche dringend ein Bad, einen Haarschnitt, eine Rasur und neue Kleider.
    Die Sonne ging bereits unter. Die Suche hatte den größten Teil des Tages in Anspruch genommen. Sergej steckte die Uhr wieder in den Leinensack und beschloss, noch eine Nacht im Wald zu bleiben.

14
    E s war an jenem Septembermorgen recht warm, als Sergej eines seiner Goldstücke in Rubel umtauschte und sich dafür Schuhe, eine dunkle Hose, ein Hemd und eine Jacke kaufte. Dann ging er mit den neuen Kleidern unter dem Arm erst zum Barbier, dann ins Badehaus. Beim Hinausgehen hielt er einen Moment an, um sich im Spiegel zu betrachten. Er sah einen gut rasierten, gepflegten jungen Mann, der ihm ausnehmend gefiel.
    Später würde er sich erkundigen, wie viel die Überfahrt über Bremen, Hamburg oder Liverpool nach Amerika kostete, aber zuerst wollte er zur Wohnung seines Großvaters gehen. Dreißig Minuten später stieg Sergej die Treppen hoch, klopfte und hatte gerade noch Zeit, seine Kleider zu ordnen und über sein frisch geschnittenes Haar zu streichen, als sich die Tür öffnete. Sergej hielt den Atem an, denn in der Tür stand jemand, den er seit langem tot geglaubt hatte.
    Sergej war so überrascht, dass er mit offenem Mund dastand und sein Gegenüber ungläubig anstarrte. Elf Jahre waren vergangen, aber die Frau, die ihm geöffnet hatte, hatte sich kaum verändert. Während sie ihn ihrerseits anstarrte, wechselte ihr Gesichtsausdruck von Verwirrung zu Erkennen.
    Sara Abramowitsch - denn niemand anderes war es - rief ungläubig: »Sergej! Bist du es wirklich?« Sie ergriff seine Hände und zog ihn hinein. Er folgte ihr in einer Art Trance, unfähig zu glauben, dass sie tatsächlich vor ihm stand und dass sie nicht in den Trümmern mit Mann und Kindern verbrannt war.
    »Sara … Wie bist du

Weitere Kostenlose Bücher