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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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diesem Gedanken nicht wohl, weil er fand, dass sie in der Nähe des Hauses bleiben sollten - für alle Fälle.
    »Ist es nicht schon etwas spät für eine so holperige Fahrt?«, fragte er.
    »Ich habe zwar das Gefühl, ich platze jeden Augenblick«, erwiderte Anja, »aber ich möchte an die frische Luft und noch einmal einen Tag allein mit dir verbringen.«
    Sergej half Anja auf den Wagen. Eine besorgt aussehende Valeria gab ihnen den Essenskorb. »Mach dir keine Sorgen, wir sind vor Sonnenuntergang zurück«, versicherte Sergej ihr und schnalzte mit der Zunge, worauf sich das Pferd in Bewegung setzte.
    Als sie neben dem Kanal den Newski Prospekt entlang fuhren und sich dann nach Norden wandten, fragte Sergej: »Anja, meine Liebste, glaubst du an das Schicksal?«
    »Ich glaube an dich.«
    »Das weiß ich«, sagte er lachend und küsste ihr Haar, »aber glaubst du außerdem noch an das Schicksal?«
    »Wie sollte ich das nicht, wenn dich so merkwürdige Umstände zu mir gebracht haben?« Sie legte die Hände auf den Bauch. »Und nun erwarten wir ein Wunder.« Sie nahm Sergejs Hand vom Zügel und legte sie auf ihren Bauch. »Kannst du ihn fühlen?«
    Zuerst fühlte Sergej nichts, aber dann spürte er erst eine zarte Bewegung und kurz darauf eine stärkere. »Ich glaube, er boxt bereits«, sagte er lächelnd und überglücklich.
    Auf ihrem Weg zur Wiese kamen sie an einem Bauernhof vorbei. Anja, die in diesem Augenblick in die ganze Welt verliebt war, lächelte und winkte dem Bauern fröhlich zu, der den Gruß mit einem Nicken erwiderte.
    Kurz darauf kamen sie auf der Wiese an. Sergej hatte vorgehabt, die Decke in die Mitte zu legen - dorthin, wo er den Schatz seines Großvaters ausgegraben hatte -, aber die drückende Hitze ließ es ihm klüger erscheinen, sich am Rand im Schatten der Bäume niederzulassen. Sie breiteten die Decke aus, holten das Essen hervor und schauten zufrieden auf das im Sonnenlicht liegende Grün.

20
    Während der Regierungszeit von Zar Alexander III. wurde eine Periode der Gegenreformen eingeleitet, in der die Gewalt gegen Juden und Zigeuner stark zunahm. Auf der einen Seite waren es extreme Nationalisten, die die Juden verfolgten, auf der anderen Seite waren es Männer wie Gregor Stakkos.
    Im Gegensatz zu den Nationalisten hatte Stakkos keine Ideologie, sein Judenhass hatte persönliche Motive, die ihm selbst nicht klar waren. Und im Gegensatz zu den Kosaken, die zwar die Feinde des Zaren töteten, sich dabei aber nicht wie gewöhnliche Diebe bereicherten, war es eine Leidenschaft von Stakkos geworden, alles von Wert beiseitezuschaffen, bevor er ein Haus oder ein Gehöft niederbrannte. Niemals ließ er Zeugen zurück, die Auskunft über die Täter hätten geben können. Stakkos war gerade zwanghaft auf seine Sicherheit bedacht und ritt niemals auf geradem Weg ins Lager zurück, sondern nahm immer Umwege über steiniges Terrain oder Flussbette. So schienen er und seine Männer wie Geister zu verschwinden und ihre Überfälle nahmen in den kursierenden Gerüchten noch erschreckendere Ausmaße an als in Wirklichkeit.
    Im Laufe des letzten Jahres hatte der neue Ataman auf seinem Weg durch Dörfer und Städte gleichermaßen unzufriedene Jugendliche und erfahrene Kämpfer angezogen. Auch einige Frauen hatten sich ihnen aus unerfindlichen Gründen angeschlossen. Einige von ihnen waren mit Männern verheiratet, die sich Stakkos angeschlossen hatten. Andere waren bereit, den übrigen Männern zu Diensten zu sein. Mit der Zeit etablierten sich feste Regeln und in der Bande herrschte eiserne Disziplin.
    Damals führte Stakkos eine neue Sitte ein: Einmal im Jahr verschonte er einen jüdischen Säugling und gab ihn in die Obhut der Frauen. Weil er die Kinder christlich erziehen ließ, erwarb er sich einen Ruf als »Retter der Kinder«, obwohl er gleichzeitig viele andere umbrachte, nach Belieben plünderte und brandschatzte. Nach einiger Zeit ähnelte die umherziehende Bande beinahe einem mobilen Kosakendorf.
    Jede kleine Grausamkeit führt zu vielen größeren - bis alles möglich war. Nach Stakkos Gesetzen war Grausamkeit nicht nur notwendig, sondern sogar erwünscht. Die Bande war nicht nur mit Säbeln und Gewehren bewaffnet, sondern auch mit dem ruhigen Gewissen von Fanatikern, die glaubten, ihnen sei alles erlaubt. Und deshalb erlaubten sie sich alles.
    Wenn man ihnen in ihren Lagern begegnet wäre, hätte man sie für normale Männer halten können, denn immerhin hatten sie Frauen und Kinder dabei.

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