Söhne der Erde 04 - Tage Des Verrats
Mädchen sah sich um. Ihr Blick glitt über die Wände: endlose Regale voller Überfluß. Charru ahnte, daß verhungernde Menschen bis heute jenseits ihrer Vorstellungskraft gelegen hatten.
»Ich bin allein hier«, sagte sie schnell, wie gegen ihren eigenen Willen. »Ich wollte noch eine Studie fertigmachen, weil ich übermorgen mit meinem Verlobten zur Venus zurückfliege. Es ist meine letzte Arbeitsschicht... «
»Aber du wirst deinen Vorgesetzten Meldung machen, nicht wahr?« fragte Charru sachlich.
Lara sah ihn an.
Ihr Blick schien von weither zurückzukommen. Der Ausdruck überlegener Neugier war in ihren Augen erloschen. Sie sah nicht mehr eine überraschend lebendig gewordene Szene aus einem Film oder einem Buch. Mit einem jähen Schauer wurde ihr bewußt, daß sie einen lebendigen Mneschen vor sich hatte. Die Narben an seinem Körper zeugten nicht von Geschichten aus der Historie, sondern von blutiger Wirklichkeit: Peitschenstriemen, Brandwunden von den Lasergewehren, ein blutdurchtränkter Verband an der Schulter. Er war so wirklich wie sie selbst. Und die Kinder, von denen er gesprochen hatte, die Alten und Kranken - auch sie waren wirklich, sie lebten, litten und fühlten Schmerzen...
Lara preßte die Lippen zusammen.
»Ich werde meine Vorgesetzten überhaupt nicht mehr treffen«, sagte sie fast gegen ihren Willen. »Ich habe offiziell schon seit heute Urlaub, ich wollte nur meine Studie zu Ende bringen.« Sie zögerte, und eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. »Ihr glaubt, daß all diese Leute wegen der Nahrung krank geworden sind?«
»Wir wissen es nicht. Wir vermuten es, weil wir uns von einer Stunde zur anderen auf eure Konzentrat-Würfel umstellen mußten.«
»Das wäre möglich. - Anpassungsschwierigkeiten des Stoffwechsels, denke ich.«
»Und daran kann man sterben?«
Es war Shaara, die die Frage stellte. Ihr Gesicht wirkte schmal und bleich, die dunklen Augen brannten. Sie dachte an Katalin und Derek, der erst zwölf Jahre alt war. An das kleine Mädchen aus dem Tempeltal und all die anderen Kinder.
»Daran kann man sterben«, nickte Lara. »Aber es wird euch nichts nützen, Nahrungsmittel aus den Zuchtanstalten mitzunehmen. Diejenigen, die schon krank sind, würden so oder so nichts bei sich behalten können. Es ist eine Frage der Umstimmung des gesamten Organismus. Die biochemischen Strukturen...«
»Das ist gleich«, flüsterte Shaara fast unhörbar. »Die Kinder sterben! Nur das zählt! Sag uns, wie wir sie retten können! Sie sind unschuldig, sie haben nichts getan! Ihr könnt doch nicht... «
Sie verstummte, als Charru die Hand auf ihren Arm legte.
Das Mädchen stand immer noch vor der jetzt geschlossenen Tür. Sie war blaß geworden. Ihr Blick wanderte über die wilden, fremdartigen Getalten, über das harte dunkle Gesicht mit den saphirblauen Augen, den weißhaarigen alten Mann und den Jungen, der für ihre Begriffe noch ein Kind war, und sie versuchte sich vorzustellen, daß irgendwo in einem Versteck in der Wüste oder den Bergen ein ganzes Volk wartete, das seine Hoffnung auf diese kleine Gruppe setzte.
Charru fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Es gibt also kein Heilmittel?« fragte er so ruhig, wie er es fertigbrachte.
»Doch, natürlich. Es würde genügen, ein paarmal XBeta-Globulin zu injizieren und...«
»Wo finden wir das? Und was heißt injizieren?«
Lara atmete tief durch.
Noch einmal glitt ihr Blick über die gefüllten Regale. Sie sagte sich, daß sie schließlich Bio-Chemikerin sei, Ärztin werden wollte, die Aufgabe hatte, Krankheiten zu heilen. Und sie begriff selbst nicht daß es in Wahrheit etwas ganz anderes war, das sie bewegte, daß sie sich plötzlich schämte, weil Krankheit und Hunger bisher in ihrem Leben nichts anderes gewesen waren als Worte und Zahlen in toten Statistiken.
»Wenn ihr wollt, komme ich mit euch«, sagte sie leise. »Ich kann das X-Beta-Globulin drüben im Labor herstellen, und ich kann auch damit umgehen.«
VI.
Draußen war der Tag angebrochen, als sie sich wieder durch die Finsternis der Höhle tasteten.
Lara hatte zwei Stunden im Labor gearbeitet und dabei zu erklären versucht, was sie tat. Charrus Kopf schwirrte. Zahlen, Formeln, fremde, unverständliche Worte... Am Ende stand ein Schreckensbild: der Operationssaal der Klinik, in dem menschliche Körper für die Organbank ausgeschlachtet wurden. Aber er begann zu verstehen, daß dies vielleicht ein Punkt war, den er falsch sah, der ihm so ungeheuerlich und
Weitere Kostenlose Bücher