Söhne der Erde 06 - Das Erbe des blauen Planeten
war sie in dem Gewölbe noch vorhanden - das konnten sie mit Hilfe von Helder Kerrs Meßgerät herausfinden. Oder irgendein Gift in der Luft? Auch das war möglich. Es gab viele Möglichkeiten - aber sie alle erklärten nicht die beklemmende Realität des Traums, erklärten vor allem nicht, daß Dayel in seinen Halluzinationen offenbar etwas ganz Ähnliches gesehen hatte. War es ein Traum? Oder konnte es sein, daß er ganz einfach in der Bewußtlosigkeit gegen irgendeine geheime Tür getaumelt war, die in einen anderen Raum führte - denjenigen, den er gesehen hatte?
Das würde dann heißen, daß hier unten jemand lebte: versteckt und unsichtbar.
Charru schob den Gedanken energisch von sich. Spekulationen, Haarspaltereien - er konnte und wollte nicht daran glauben. Ein Alptraum, sagte er sich noch einmal, während er am Kopf der endlosen Treppe stehenblieb und über die Wand tastete, bis sie sich vor ihm öffnete.
Rasch glitt er durch die Tür in den Tunnel.
»Dayel?« rief er halblaut.
Keine Antwort.
Der junge Akolyth stand nicht mehr an seinem Platz. Wahrscheinlich war ihm das Warten zu lang geworden: er mußte todmüde sein, genau wie alle anderen. Charru beschloß, wegen seines unerklärlichen Alptraums jedenfalls niemanden zu wecken. Er wandte sich um, ging rasch den Tunnel entlang und fuhr leicht zusammen, als er aus einem der Quergänge Stimmen hörte.
»Was noch? Was hast du noch gesehen? Ich will alles wissen!«
Zai-Caroc!
Bar Nergals treuester Anhänger. Ein blinder, unbelehrbarer Fanatiker.
»Nichts«, flüsterte Dayel gequält. »Ich weiß nichts mehr. Ich kann mich nicht erinnern ...«
»Hör zu, du...«
Mit fünf, sechs langen Schritten erreichte Charru die Einmündung.
Zorn loderte in ihm auf. Eine wilde, ungezügelte Wut, die nach all den Grübeleien befreiend wirkte. Als er um die Ecke bog, brannte in seinen Augen ein kaltes, funkelndes Feuer, und die Priester zuckten erschrocken zusammen.
Zai-Caroc hatte Dayel an der Akolythen-Robe gepackt und schüttelte ihn.
Der Junge zitterte. An seiner Wange hatte ein Fausthieb die Haut über dem Jochbein aufgeschürft. Hilfesuchend irrten seine Augen zu Charru hinüber. Der Priester bemerkte den Blick, wollte sich umdrehen, doch da fühlte er sich schon an der Schulter gepackt und zurückgerissen.
Mit einem wilden Ruck stieß ihn Charru gegen die Wand.
Zai-Caroc schrie auf, als er die zum Schlag erhobene Hand und die lodernden Augen in dem harten bronzenen Gesicht sah. Charru bezwang sich, ließ den Arm sinken und krallte die Finger in den Stoff der schmutzigen Priesterrobe.
»Was soll das?« stieß er hervor. »Was wollt ihr von ihm?«
Zai-Caroc keuchte. »Laß mich los! Was geht es dich an? Er gehört uns, er ...«
Charrus Beherrschung riß.
Blitzartig schlug er Zai-Caroc mit dem Handrücken über den Mund. Der Priester schrie auf. Seine Lippe blutete. Die Augen, in denen eben noch unverhüllter Haß geglommen hatte, weiteten sich in jähem Schrecken.
»Dayel ist kein Sklave«, sagte Charru leise und scharf. »Er gehört niemandem außer sich selbst. Was wollt ihr von ihm?«
»Nichts«, wimmerte Zai-Caroc. »Nichts! Ich schwöre...«
»Warum hat er dich geschlagen?« fragte Charru in Dayels Richtung.
»Weil er glaubt, ich hätte ihn belogen.« Der junge Akolyth war einen Schritt zurückgewichen, sah mit einem Ausdruck unglaubwürdiger Verwunderung von einem zum anderen. »Sie haben Angst«, sagte er - leise und zögernd, als könne er es nicht fassen. »Die Priester haben Angst. Sie glauben, daß hier etwas nicht geheuer ist, daß etwas Unheimliches vorgeht. Sie dachten, ich wüßte, was es ist, und wollte es nicht sagen.«
Charru ließ Zai-Carocs Robe los.
Sein Blick wanderte über die anderen: Shamala mit dem dunklen Gesicht und den düsteren, brütenden Augen; Beliar, der in der Welt unter dem Mondstein Bar Nergals Strafen vollstreckt und die Peitsche geschwungen hatte; einer der älteren Akolythen, hager und asketisch, geformt von einem Leben in Furcht und Gehorsam. Ja, sie hatten Angst. Sie waren es gewöhnt, in der Sicherheit der Tempelpyramide zu leben und alle Entscheidungen dem Oberpriester zu überlassen. Sie mußten noch lernen, sich einer Gefahr zu stellen und ihr entgegenzutreten. Im Grunde war es nicht verwunderlich, daß sie sich auf diesem Weg der Mittel bedienten, die ihr Leben bestimmt hatten: Gewalt und Terror.
»Wenn es hier etwas gibt, das gefährlich für uns ist, werdet ihr es erfahren«, sagte Charru hart.
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