Söhne der Erde 20 - Durch die Hölle
Anspruch nehmen zu müssen. Er wußte, daß er sie damit in Gefahr brachte. Schon einmal war der Merkur von der marsianischen Kriegsflotte eingenommen worden: vor zwanzig Jahren, als Conal Nords Bruder Mark dort im Auftrag des Rates ein Siedlungsprojekt leitete. Der Planet hatte sich als unbewohnbar erwiesen, jedenfalls nach Meinung der Wissenschaftler, die seelenlose Computer entscheiden ließen. Aber die Siedler weigerten sich aufzugeben: Sie wollten den Merkur für sich, für eine neue Gesellschaftsordnung. Lebenslängliche Deportation in die Bergwerke von Luna war die Folge gewesen. Und erst nach zwanzig Jahren Zwangsarbeit, als die Barbaren aus der Mondstein-Welt mit ihrem uralten Schiff den Erdenmond anflogen, hatten die Rebellen die Chance bekommen, auf den Planeten zurückzukehren, den sie als ihre Heimat betrachteten.
Und jetzt?
Hatte Conal Nords Intervention zu einer Art Stillhalteabkommen geführt, das durch die Flucht der Terraner zum Merkur gefährdet werden würde? Mark behauptete das Gegenteil, doch Charru fiel es schwer, daran zu glauben. Aber er wußte, daß er keine Wahl hatte. Um der Menschen willen nicht, die ihm vertrauten und für die ein Leben als drogenbetäubte Marionetten im Sklavenstaat der Marsianer schlimmer als der Tod gewesen wäre.
Eine Berührung an der Schulter ließ ihn leicht zusammenfahren. Als er den Kopf wandte, begegnete er den nebelgrauen Augen Gerinths, des Ältesten der Stämme. Der große Mann mit den schulterlangen schlohweißen Haaren lächelte.
»Wir brauchen nichts zu überstürzen«, sagte er ruhig. »Noch haben wir Zeit. Laß uns erst einmal versuchen, ob wir den Schaden nicht reparieren können.«
*
Auf der anderen Seite des Erdballs lastete Hitze über den Ruinen von New York.
Metall blinkte in der Sonne: verbogene Trümmer, die weit über das graue, vielfach geborstene Betonfeld des ehemaligen Raumhafens verstreut waren. Dort, wo noch vor kurzem eine Reihe stolzer silberner Flugzeuge gestanden hatte, gab es nur noch ausgeglühte Wracks, zu nichts mehr zu gebrauchen.
Zu nichts - außer den Haß wachzuhalten, der Bar Nergal erfüllte.
Ciran, hämmerte es in ihm.
Ciran, Sohn Charilan-Chis, der Königin der Totenstadt, ein vierzehnjähriger Wilder, der den vermeintlichen Göttern von den Sternen stets am eifrigsten gedient hatte. Was konnte ihn bewogen haben, sich gegen seinen »Gott« Bar Nergal zu erheben, die Flugzeuge in die Luft zu sprengen und zu fliehen? Der Tod seiner Brüder? Das Grauen, das er in jenem fernen Tal im Himalaya erlebt hatte, wo nicht die Terraner, sondern Menschen einer fremden, friedlichen Rasse im Feuersturm der Atombomben-Explosion umgekommen waren? Die Tiefland-Krieger und die verräterischen Tempeltal-Leute lebten. Ciran hatte sich geweigert, eine weitere Atombombe abzuwerfen, um sie endlich vom Erdboden zu tilgen. Er war nur zurückgekommen, um jene phantastische Geschichte über einen »tödlichen Ring« und die drohende Hitzekatastrophe zu erzählen. Er war gekommen, um sein Volk zu warnen - dieses primitive, degenerierte Volk, dessen katzenhafte Wesen Bar Nergal mit wenigen Ausnahmen als Tiere betrachtete.
Der Oberpriester preßte die dünnen Lippen zusammen.
Er stand allein in der Sonne: eine hohe, hagere Gestalt, in die Fetzen einer blutroten Robe gehüllt, die Haut straff wie altes Pergament über den Knochen des schmalen, haarlosen Schädels. Aus dem Schatten eines fast unversehrten Lagerhauses beobachteten ihn Priester, Akolythen und Tempeltal-Leute; ein knappes Dutzend Menschen, die sich weniger aus Treue zu Bar Nergal als aus Angst vor der Rache des Mars von den anderen Terranern getrennt hatten. Zwischen den Ruinen bewegten sich huschende graue Schatten, spähten angstvolle Augen. Ein Heer wolfsgroßer mutierter Ratten und ihre Herrinnen, die kriegerischen Katzenfrauen.
Irgendwo im Labyrinth der feuchten, dunklen Kellerlöcher residierte Charilan-Chi, die Königin, in ihrem gespenstischen Thronsaal.
Ihre Kinder waren menschlich wie sie, waren das Ergebnis eines genetischen Experiments, das marsianische Wissenschaftler vor vielen Jahren in die Wege leiteten. Fühlte Charilan-Chi jetzt Haß, weil der »Gott« Bar Nergal so viele ihrer Söhne in den Tod geschickt hatte? Das fahle Greisengesicht verzerrte sich. Ciran! Dieser niederträchtige Verräter! Aber der Verrat kam nicht aus ihm selbst. Er war der Verführung erlegen wie schon andere vor ihm. Der Verführung des schwarzhaarigen Tiefland-Fürsten, der nicht an
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