Söhne der Erde 22 - Flug der Verlorenen
würde, das erkannte Kane genau, jeden einschließlich seiner eigenen Anhänger verraten, um sich zu retten.
»Du bist dir klar darüber, daß der bewaffnete Angriff auf einen marsianischen Flottenverband normalerweise die Todesstrafe nach sich zieht?« fragte der General gedehnt.
»Herr, ich... «
»Ihr seid gezwungen worden, ich weiß.« Kane machte eine ungeduldige Geste. »Darum geht es jetzt nicht. Die Behörden haben sich entschlossen, diejenigen zu verschonen, die entweder nicht gefragt wurden oder nur einen geringen Anteil an dem Verbrechen hatten. Vor Gericht gestellt und bestraft werden sollen die wirklich Schuldigen, die Anführer. Meine Aufgabe ist es, zehn von ihnen auszuwählen. Dazu brauche ich die Hilfe von jemandem, der sich unter den Anhängern Charru von Mornags auskennt. «
Bär Nergal nickte. Eifrig, obwohl er offenbar noch nicht ganz begriffen hatte.
»Du könntest mir die Namen der wirklich Schuldigen nennen?« fragte Kane.
Jetzt verstand der Oberpriester.
Seine schwarzen Augen verengten sich zu Schlitzen. Von einer Sekunde zur anderen schien tief auf dem Grund der Pupillenschächte ein gelblicher Funke zu glimmen.
»Ja, Herr!« krächzte er. »Ja, das kann ich! Niemand könnte es so gut wie ich.«
»Seht schön. Ich weiß, daß Charru von Mornag, Camelo von Landre und der alte Mann mit dem Namen Gerinth zu den Rädelsführer zählen. Wer noch?«
Über Bar Nergals Gesicht zuckte das Zerrbild eines Lächelns. Seine Antwort kam sofort, kam mit haßerfülltem Zischen, mit einem wilden Triumph, der den dürren Körper wie ein Fieberschauer schüttelte.
»Jarlon von Mornag!«
General Kane atmete hörbar aus.
Jarlon von Mornag war siebzehn Jahre alt: für marsianische Begriffe noch ein Kind, für die Terraner vielleicht erwachsen, aber sicher keiner der Anführer. Bar Nergal hatte den Namen des Jungen aus Haß genannt, aus purer Rachsucht. Und er wollte damit nicht Jarlon treffen, sondern seinen Bruder.
»Unsinn«, sagte Manes Kane scharf. »Ich rate dir, nicht noch einmal zu versuchen, dieses Gespräch für deine Zwecke auszunutzen. Ich brauche die Namen der Rädelsführer, nicht die der Männer, an denen du dich rächen willst. Bist du jetzt bereit, vernünftig zu reden?«
Bar Nergals Lippen zitterten.
»Ja, Herr, ja!« beteuerte er.
Dabei kroch er förmlich in sich zusammen, schlotternd vor Furcht, er könne seine Chance verspielt haben. General Kane atmete auf, weil er wußte, daß er jetzt die Wahrheit hören würde.
*
Eine Nacht und ein halber Tag verstrichen.
Im Kliniktrakt der »Sirius« erlag eine Frau aus dem Tempeltal ihren schweren Verletzungen. Beryl von Schun schwebte stundenlang zwischen Leben und Tod, aber seine zähe Natur setzte sich durch. In einer der Schlafmulden dämmerte er vor sich hin - nicht ahnend, daß nebenan Mikael und Jay Montini von einem Ärzteteam behandelt wurden, um sie möglichst schnell wieder in eine körperliche Verfassung zu bringen, die den massiven Einsatz von Wahrheitsdrogen erlaubte.
Die Menschen in den kahlen Zellen fühlten sich wie gefangene Tiere.
Jarlons weißes Gesicht verriet, wie schwer es ihm fiel, über den Schock hinwegzukommen. Camelo saß zurückgelehnt auf einer der Schlafmulden. Charru wußte nicht, wer damit angefangen hatte, von der Vergangenheit zu sprechen. Jetzt redete Camelo mit seiner dunklen, melodischen Stimme, beschwor Bilder der Erinnerung, heitere oder traurige Episoden - wie um sich selbst und den anderen zu versichern, daß sie gelebt hatten, erfüllter und intensiver gelebt als je ein Marsianer.
Charru dachte an Lara und das Kind, die wenigstens in Sicherheit waren.
Er verbot sich, über all die Wünsche und Sehnsüchte nachzugrübeln, die nun nie mehr in Erfüllung gehen würden. Aber er konnte seine Gedanken nicht davon losreißen, und deshalb atmete er erleichtert auf, als sich endlich wieder die Tür der Zelle öffnete.
»Charru von Mornag, Camelo von Landre, Mark Nord, Ken Jarel... «
Die Stimme des Uniformierten klang ausdruckslos. Es war wie beim erstenmal, nur daß jetzt auch der Name Raul Madsen fiel. Der alte Mann erhob sich ruhig von der Schlafmulde.
Jarlon war aufgesprungen und blickte mit flackernden Augen von einem zum anderen. Charru schüttelte unmerklich den Kopf. Er glaubte nicht, daß General Kane, Simon Jessardin oder wer auch immer es sich anders überlegt hatte, daß die Gefangenen nun doch liquidiert werden sollten.
Flüchtig legte Charru seinem Bruder die Hand auf die
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