Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
wieder wischte sie sich über die Augen, als sie zum Haus zurückkehrte und die Wölfe den Hof verließen.
Mica beschloss, vom Dach herabzusteigen, doch die erste Bewegung in diese Richtung ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Seine verlangsamten Reaktionen erlaubten ihm nicht, den Giebel zu packen und sich festzuhalten. Er schlidderte über die Dachschräge und stürzte wie eine tote Fledermaus in die Tiefe. Sein Aufschlag am Boden war hart. Mit dem ersten Atemzug schluckte er Staub und musste husten. Der Großmeister der Vampire lag würdelos im Dreck und konnte sich nicht aus eigener Kraft erheben. Bis die Brüche in seinen Knochen heilten, blieb hinreichend Zeit, um sich für den größten Idioten seit Entstehung des alten Volkes zu halten.
»Mica?« Schwerfällig drehte er sich auf den Rücken und fand sich Florine gegenüber, die sich über ihn beugte. »Du bist vom Dach gefallen.«
»Das weiß ich selbst. Hilf mir auf.«
»Du solltest liegen bleiben. Deine Knochen, ich habe gehört wie sie brachen.«
Es brauchte noch etwa eine halbe Stunde, bis es völlig dunkel war, und er gedachte nicht, sie auf dem Pflaster eines Hofes zu verbringen, wie ein unter die Räder gekommener Straßenkater. Er schloss die Augen und riss sie abrupt wieder auf. Es fehlte ihm noch, hier und jetzt einzuschlafen.
»Mit meinen Knochen hat alles seine Ordnung. Ich brauche lediglich etwas Hilfe. Ich muss raus aus dem Licht.«
Nachdem Florine einen Stoßseufzer über ihn ergoss, ergriff sie seine Hände und half ihm in eine aufrechte Sitzhaltung. Mehr brachten sie trotz gemeinsamer Anstrengungen nicht zustande. Sein Gewicht war zu groß für sie, zu groß für ihn selbst und so erschöpfte er sich in leise gezischten Flüchen, die ihn Wachhalten sollten, wenn er schon nicht aufstehen konnte.
»Ich hole einen Schirm«, sagte Florine.
»Was bitte, soll ich mit einem verfluchten Schirm anfangen?«
»Du sollst dich darauf stützen. Entweder das, oder du bleibst im Hof sitzen, bis es dunkel wird.«
Wieder klappten seine Lider zu, und als er sie wieder öffnete, kehrte Florine zurück, einen großen Sonnenschirm geschultert, dessen Spitze sie dicht neben seiner Hand absetzte. An dieser provisorischen Stütze zog er sich hinauf, zunächst auf die Knie, dann auf die Füße. Es war entwürdigend, ein herber Anschlag auf seinen Stolz. Sich auf den Schirm stützend wankte er auf das Haus zu. Es kostete ihn alle Konzentration, die Stufen zu meistern. Das Vestibül war glücklicherweise dunkler. Erleichtert sank er gegen die Wand.
»Weiter kann ich dich nicht vorlassen, Mica«, sagte Florine und klang mit einem Mal unterkühlt.
»Ich habe auch nicht vor, weiter vorzudringen, es sei denn, du zwingst mich dazu.«
»Wir sollten uns gegenseitig keinen Zwang auferlegen. Du bist ganz vergeblich gekommen.«
Mica hob einen Mundwinkel in der Karikatur eines Lächelns. »Heute Nacht treten sie einem tödlichen Gegner gegenüber, Kind. Was glaubst du, wie hoch die Chancen stehen, dass sie siegreich daraus hervorgehen?«
»Hoch. Sie verstehen zu kämpfen, und der Vollmond bietet ihnen genug Licht, um ihre Feinde gut genug sehen zu können. Ich zweifle nicht an einem Sieg.«
Und ob sie zweifelte. Ihre Zweifel waren größer als seine eigenen, denn aus ihren Worten entnahm er, dass sie nicht wusste, was der Vollmond aus den Werwölfen machte. An Cassians Stelle hätte er es vermutlich ebenfalls verschwiegen. Ein Wolf mochte auf eine abenteuerlustige Frau eine gewisse Anziehung ausüben. In ihm vereinte sich die Kraft und Wildheit der Natur. Hingegen verschmolzenin der Bestie einzig Blutrausch mit Mordlust, und so versessen auf Abenteuer konnte nicht einmal Florine sein, um Gefallen daran zu finden. Der Anblick der Bestie würde ausreichen, um ihre Liebe im Keim zu ersticken.
»Ich habe dir stattgegeben, so lange es mir möglich war. Jetzt kann ich es nicht mehr, Kind. Du kannst nicht bleiben.«
»Hier ist mein Zuhause!«
»Das ist es nicht und kann es auch nicht werden.«
Voller Unmut funkelte sie ihn an. Das Licht im Vestibül schwand und mit ihm verlor sich Micas Müdigkeit. Dennoch blieb er an der Wand stehen.
»Da du dir ihres Scheiterns so sicher bist, weshalb hilfst du ihnen nicht?«
»Ich kann ihnen nicht helfen.«
»Du lügst! Es hat ein Bündnis zwischen Euch gegeben. Cassian hat es mir erzählt. Ihr habt gemeinsam gegen die Namenlosen gekämpft. Warum also diesmal nicht? Soll Cassian sterben, weil ich zu ihm gegangen bin und dich
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