Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
einen Körper gedrückt wurde. Er wollte das nicht. Er wollte sich verkriechen und seine Wunde lecken. Stattdessen wurde er davongetragen. Seine Gegenwehr erlahmte, da sich eine Schwärze über ihn senkte, die tiefer war als die lichtlosen Katakomben.
Dem Zittern seiner Hände konnte Ruben nicht beikommen, so fest er sie auch zu Fäusten ballte. Der Schweiß auf seiner Haut war getrocknet. Sein Schweißausbruch kam nicht von der Anstrengung, einen neunzig Kilo Wolf zu tragen, sondern von der Furcht, sein Bruder könnte in seinen Armen sterben. Seine Kleidung hatte er gewechselt, denn nichts machte einen Wolf unruhiger als Angstschweiß, und Cassians Verstörung durfte nicht stärker werden.
Obgleich Ruben seine Bewegungen auf ein Minimum beschränkte, hob immer wieder ein warnendes Knurren an. Von Stunde zu Stunde wurde es schwächer. Cassian ließ niemanden an sich heran, weder seine direkten Sippenangehörigen, noch ein Mitglied aus seinem Rudel. Sogar Sarah, seine Favoritin, hatte sich ihm nicht nähern dürfen. Ausschließlich große Schmerzen konnten einen Alpha auf das Tier reduzieren, das in jedem von ihnen steckte. Darüber vergaß Cassian alles andere, sogar die Zugehörigkeit zu seiner Sippe, die er zu jeder anderen Zeit mühelos erkannte. Sein Verhalten machte es unmöglich seine Wunde zu versorgen, die an der linken Seite bis auf die Rippenknochen klaffte. Blut war in seinem Fell getrocknet und ließ es borstig abstehen. Er hatte zu viel davon verloren. Juvenal war gegangen, vertrieben von der Einsicht nicht helfen zu können oder schlichtweg, da er dem Sterben seines jüngsten Sohnes nicht beiwohnen wollte. Ruben blieb, obwohl seine Gegenwart Cassian aufregte. Solange er Distanz hielt und sich nicht bewegte, blieb der Wolf ruhig auf dem Bett liegen.
Ohne den Kopf zu heben, sah Ruben auf, in ein schräg stehendes Augenpaar, das ihn in Schach halten wollte. Wolfsaugen, in denen Schmerz und Aggression standen. Der Wolf zog die Lefzen zurück und zeigte ein weißes Gebiss, beherrscht von tödlichen Fängen. Sofort brach Ruben den Blickkontakt ab. Er war machtlos.
»Ich bin dein Bruder«, sagte er leise. »Du kennst mich. Du bist kein Wolf, Cassian. Du bist wie ich, und du musst dich zurückverwandeln, damit die Wunde sich schließen kann. Ich …«, Er stockte. Das Tier beherrschte Cassian voll und ganz. Er verstand nichts, Worte konnten nicht durch seinen Schmerz dringen. »Du wirst sterben, wenn du nicht zurückfindest.«
Der Wolf fixierte Ruben. Sein Körper beanspruchte die gesamte Breite des Bettes. Sein Kopf war groß, der Schädel breit. Unter seinem honigbraunen Fell saßen dicke Muskelpakete, und seine langen Beine endeten in schweren Pfoten. Es war unmöglich, sich näher an ihn heranzuwagen. Selbst jetzt noch war sein Kiefer stark genug, um einen letzten, tödlichen Biss zu setzen.
»Warum verwandelst du dich nicht?«, ächzte Ruben und barg das Gesicht in den Händen.
Er hatte keine Ahnung, was mit seinem Bruder geschehen war. Die Wandlung und mit ihr die Heilung setzte nach einer schweren Verletzung normalerweise sofort ein. Außer Cassian wollte es nicht. Es gab solche Fälle. Ein Werwolf vergaß seinen Ursprung, und der Vollmond verlor seine Macht über ihn. Mit dem Menschen, der verloren ging, verschwand auch die Bestie, und zurück blieb ein Wolf. Größer und stärker als seine Artgenossen, dennoch ein ganz normaler Wolf.
Lag es an der Anspannung und Unruhe, die Ruben noch vor dem Kampf mit dem Namenlosen an ihm wahrgenommen hatte? Dann hatte dieses Mädchen mit den Haaren, die weder blond noch rot waren, seinen Bruder auf dem Gewissen. Die von Cassian hinterlassene Markierung war Antwort genug. Nun, dieses scharfzüngige Frauenzimmer würde in dem riesigen Wolf nicht den Liebhaber erkennen. Das Bett würde sie garantiert nicht mit ihm teilen wollen. Anstatt ihm auf die Pelle zu rücken, würde sie schreiend die Flucht ergreifen.
Ruben starrte auf seine Stiefelspitzen. Vor ihm lag ein Tier auf dem Zenit seiner Kraft, er hingegen sah den Welpen vor sich. Ein Säugling war Cassian nur in seiner Wiege gewesen. Sobald er wach geworden war, hatte er sich verwandelt. Als Welpe konnte er herumtapsen, seine Umgebung erkunden und zudem die Stiefel seiner Sippe zerkauen. Auf Letzteres war er besonders erpicht gewesen. All das war einem Säugling verwehrt.
Gilian und Ruben hatten oft mit ihm gespielt, nicht mit dem Säugling, den sie für langweilig hielten, sondern mit dem Welpen, der
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