Söhne der Rose - Die Zeit ist aus den Fugen- (Gay Phantasy) (German Edition)
äußeren Umstände hatten uns keine Ruhe gelassen, uns auf Trab gehalten, alles von uns gefordert. Und doch waren es gute Tage gewesen, weil wir sie gemeinsam durchgestanden hatten. Der Mensch neigt dazu, selbst unangenehme, ja sogar traumatische Erlebnisse zu glorifizieren. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass es nicht nur Einzelkinder gibt. Denn welche Frau würde sich sonst ein weiteres Mal den furchtbaren Schmerzen einer Geburt aussetzen? Die Natur weiß schon, warum sie das so eingerichtet hat.
Aber ich war jetzt allein. Jeder von uns Vieren war nun von den anderen getrennt. Dadurch keimte in mir eine schreckliche Gleichgültigkeit auf. Irgendwie schien es mir plötzlich nicht mehr besonders wichtig zu sein, nicht von den Cops aufgegabelt zu werden. Nicht in den Knast zu kommen. Alles hinschmeißen. Nichts mehr.
Ich wollte nur noch weiter gehen.
Schräg rechts vor mir befand sich der Flughafen, aber schräg links vor mir lag nur dünn besiedelte, ebene Landschaft.
Einfach weiter gehen. So, wie es die Menschen immer machen. Das kommt der Evolution recht nahe; vielleicht sogar dem Sinn des Lebens. Vielleicht besteht der Sinn darin, dass es keinen gibt. Bei einem Kreis gibt es auch kein Anfang oder Ende. Folgt man einer geraden Linie auf einem kugelförmigen Körper, wie zum Beispiel der Erde, endet man irgendwann da, wo man losgegangen ist. Das ganze Dasein ist wie ein universelles Perpetuum Mobile, dessen Existenz nur in sich selber begründet ist. Und wir müssen es am Laufen halten, damit die Evolution dort enden kann, wo sie begonnen hat, nur, um wieder zu beginnen.
Einfach weiter gehen. Frei von Verantwortung, von Emotionen und Wünschen. Bis ich tot umfalle. Irgendwie eine schöne Idee.
Eine Hand packte mich fest am Oberarm und riss mich herum. Völlig in Gedanken versunken, benötigte ich einen Moment, um Alain zu erkennen.
„Geht es nicht noch ein wenig auffälliger, Großer?“
Und im selben Moment fiel ein Umhang düsterer Grübeleien von mir ab. Die Welt um mich herum, die unbemerkt schwarz-weiß geworden war, erhielt ihre Farben zurück, ihre prächtigen Farben, angefangen vom stahlblauen Himmel, über das Grün der endlosen Wiesen, bis hin zu Alains edlem, elfenbeinfarbenem Hautton.
„Komm mit in Deckung.“
Alain zerrte mich hinter eine kleine Scheune nahe der Kreuzung. Noch eine Minute zuvor war ich nahe daran gewesen, einfach aufzugeben. Jetzt erst wurde mir deutlich bewusst, wie wenig ich damit gerechnet hatte, Alain überhaupt noch einmal lebend wiederzusehen. Eine unglaubliche Welle der Erleichterung überspülte mich, riss die düstersten Gedanken fort und reinigte mein Innerstes. Ich hatte noch immer Angst um Sinh und auch um Daxx, aber diese Angst war nicht mehr von Hoffnungslosigkeit begleitet.
Unabhängig vom Sinn des Lebens im Allgemeinen, kristalisierte sich der Sinn meines Lebens heraus. Es ging mir nicht um Reichtümer, um Ruhm oder sogar Macht, es ging mir nicht um einen guten Job oder darum, wo ich lebte.
Es ging mir um die Personen, die mir nahestanden. Man konnte mir alles nehmen, bis auf die Menschen, die mir lieb waren, und meine Erinnerungen, und ich blieb der reichste Mensch auf Erden. Vielleicht war diese Erkenntnis gar nicht mal neu, hatte doch zumindest der unglaubliche Shakespeare diese Gedanken, wenn auch in anderer Form, in seinem Stück Hamlet bereits zum Ausdruck gebracht. Über seine gesammelten Werke hatte ich mich im Herbst und Winter 2009 hergemacht, und ich muss gestehen, dass mir kein anderer Autor bekannt ist, der es, ähnlich einem grandiosen Maler, geschafft hat, mit der Sprache, mit Wörtern und Sätzen, gedankliche Bilder zu gestalten. In all seinen Stücken habe ich keinen Satz entdecken können, den man mit anderen Worten prägnanter oder besser hätte ausdrücken können.
Für einen kurzen Augenblick überkam mich ein wohliger Gedanke, der, allein durch seine winzige Zeitspanne, für mich nicht wirklich greifbar war. Ich glaube, es war ein Gemisch aus Shakespeare und der Villa, aber bevor er mentale Fußspuren in meinem Kopf hinterlassen konnte, war er wieder verschwunden.
Trotzdem fühlte ich mich besser.
„Wo ist Daxx?“, unterbrach Alain die gedankliche Kette der Vergangenheit endgültig, obwohl die emotionale blieb. Inzwischen hatten wir die des West Airline Drives abgewandte Seite der Scheune erreicht. Ich versuchte, mir nichts von der wärmenden Erleichterung anmerken zu lassen. Alain sollte mich nicht schon wieder
Weitere Kostenlose Bücher