Söhne der Rosen - Die rätselhaften Zwillinge (Gay Phantasy) (German Edition)
ihnen waren Jahreszahlen verzeichnet, mal mit blauer, mal mit schwarzer Tinte, auf jeden Fall mit verschiedenen Handschriften. Die frühesten gingen zurück bis zum Jahr 1939. Ein Archiv. Ich dankte Gott, dass ich meine gesammelten Werke der Orange Orchid News nicht weggeworfen, sondern in einem leerstehenden Kaminzimmer im Erdgeschoss gelagert hatte. Offensichtlich gehörte es zu meinen Aufgaben, die gedruckte Vergangenheit hier zu archivieren. Wieder etwas, was mir Alain nicht erzählt hatte. Aber es war unfair, ihm die Schuld zu geben, schließlich lebte ich seit anderthalb Jahrzehnten hier. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, das mir zum Leben verbliebene winzige Umfeld in der ganzen Zeit nicht genauer zu untersuchen?
„Selbst schuld“, sagte ich laut und bereute es sofort. Meine Stimme klang wie ein Fremdkörper in dieser Stille. Hier würde ich Antworten finden, vielleicht nicht alle, aber zumindest einige, dessen war ich mir sicher. Erneut betrachtete ich die mich drohend überragenden Papierstapel. Ich würde Zeit brauchen, viel Zeit. Aber wenigstens war das etwas, auf das ich Einfluss hatte.
War diese Kammer das Herz der Villa, von dem Alain gesprochen hatte? In dem Raum war die Zeit konserviert worden, in Form gedruckter Buchstaben auf Papier. Aber es waren sachliche Erinnerungen, Berichte, Artikel, Neuigkeiten. Das Gehirn speichert Daten auf diese Art und Weise; das Herz hingegen Emotionen. Ich hoffte, Alain hatte diese Kammer gemeint, konnte mir aber nicht sicher sein. Ein Durchsuchen der gesamten Villa blieb trotzdem unumgänglich.
Ich löschte das Licht, schnappte mir das Gemälde und die Puppe und verließ den Dachboden. Morgen früh würde ich mit meiner Recherche beginnen. Für heute hatte ich genug erfahren, um selber etwas ruhiger zu werden. Wenn man einen solch langen Zeitraum ohne unbewusst herbeigeführte Schmerzen verbracht hatte wie ich, wirkten selbst die leisesten Kopfschmerzen wie eine Vergewaltigung. Ja, etwas war gegen meinen Willen mit mir geschehen, und ich war nicht gewillt, es ohne weiteres über mich ergehen zu lassen. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich zwar ängstlich, aber auch wieder frisch, lebendig. Ich wollte keine Flipperkugel sein, die achtlos herumgestoßen wird, ich musste die Rätsel lösen; die der Vergangenheit der Villa, die der Gegenwart meiner Schmerzen und die der Zukunft meiner Nachfolger.
Den Abend verbrachte ich mit Dina in meiner Bibliothek. Ich hatte das Portrait vom Dachboden mir gegenüber auf den bordeauxroten Ledersessel gestellt und die Puppe danebengesetzt, zwei Sandwiches gemacht und einige Kunstbücher aus den Regalen geholt. Ich war gerade erst beim zweiten Dreieck meines Abendbrots angelangt, als ich fand, was ich gesucht hatte. Und obwohl ich es vermutet hatte, traf mich die Bestätigung wie ein gezielt geschmetterter Schneeball, eiskalt und hart.
Das vor mir aufgeschlagene Buch über Künstler der Renaissance zeigte das Selbstportrait eines gereiften Mannes in den für die Zeit typischen Gelb-, Braun- und Schwarztönen. Schmales Gesicht, verträumter Blick, geteilter Kinnbart, braune, kurzgeschorene Locken. Ich legte mein angebissenes Sandwichstück zurück auf den Teller, schluckte mühsam den Bissen, den ich im Mund hatte, und hob das Buch hoch, so dass Abbildung und Gemälde auf gleicher Höhe waren. Nervös blickte ich zwischen beiden hin und her. Es war derselbe Stil, die selbe Technik, die selbe Person , einmal jung, einmal alt.
Die Marginalien in dem Buch besagten folgendes:
Michelangelo Buonarotti
(Michelagniolo di Lodovico di Leonardo di Buonarrot Simoni)
1475 - 1564
Selbstportrait
Michelagniolo Buonarrot Simoni.
M. B. S.
Das ist unmöglich , erklärte mir der rationale Teil meines Verstandes, der in den letzten fünfzehn Jahren nicht viel zu sagen hatte. Sicher, genau so unmöglich wie Unsterblichkeit, Zeitmanipulation und Symbiose mit an sich toten Gegenständen. Mein rationaler Teil schwieg beleidigt. Dennoch war der Einwand nicht gänzlich unberechtigt. Ich befand mich in Amerika, das 1492 „entdeckt“ worden war, und ich konnte mir kaum vorstellen, dass Michelangelo nur vier Jahre später eine Reise von Florenz hierher unternommen hatte. Woher aber stammte dann dieses Originalgemälde? Meine Suche nach Antworten warf bloß weitere Fragen auf.
Auf die Idee, dass der Berg in Ausnahmefällen vielleicht doch zum Propheten kommt, kam ich zu dem Zeitpunkt nicht.
Montag, 25. Juni
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