Söhne der Rosen - Die rätselhaften Zwillinge (Gay Phantasy) (German Edition)
Locken.
So realistisch getroffen, als hielte ich ein Foto in meinen Händen. Die Signatur lautete: M. B. S. 1496
M. B. S.
1496.
Wieder streifte mich ein flüchtiger Gedanke, wie zuvor in meinem Zimmer mit Daxx, doch der Versuch, ihn festzuhalten war genau so erfolglos, als versuchte man, einen Pudding an die Wand zu nageln. Ich stellte das Gemälde an den Treppenabsatz und suchte weiter.
Eine staubige, halbe Stunde später war ich in einer Nische zwischen Außenwand und dem dritten Kamin angelangt. Nachdem ich verschiedene alte Tapetenrollen – mit Mustern, die jedem Innenarchitekten einen sofortigen und schmerzhaften Herzstillstand beschert hätten – und Abdeckplanen zur Seite geschoben hatte, entdeckte ich eine modrige Teekiste, wie sie für den Transport auf Schiffen benutzt wurde. Der Deckel war nur aufgelegt. In ihr befanden sich haufenweise Wäschestücke – zu meiner Verwunderung nur Damenbekleidung. Entweder hatte einer meiner Vorgänger einen speziellen Modegeschmack gehabt, oder die Villa hatte nicht immer nur junge Männer beherbergt. Naphtalingeruch stieg mir in die Nase, als ich die Kleider genauer begutachtete. Uralt, mit Sicherheit teuer und sehr eng geschnitten. Als ich eine Rüschenbluse anhob, starrte mich ein totes Kindergesicht an. Ich fuhr in die Höhe und stieß meinen Kopf an einem Dachbalken an. Ich schrie, eher vor Entsetzen als vor Schmerz. Das Kind war nicht tot; es war nicht einmal ein Kind.
Unter der Kleidung lag eine Puppe, die unbeweglichen Porzellanaugen in die Unendlichkeit gerichtet. Mein Atem ging stoßweise. Erleichtert lachte ich kurz auf, aber es blieb mir sofort im Hals stecken. Es war eine Puppe, kein Zweifel, aber hier im Dämmerlicht und zwischen den gefräßigen Schatten sah sie beinahe aus, als würde sie mich mit ihren Blicken begutachten. Erst jetzt wurde mir die bedrückende Stille auf dem Dachboden bewusst. Nicht einmal die Vögel konnte man hier oben hören, nur meinen eigenen Atem.
Oder war es der der Puppe?
Unsinn.
Und trotzdem kostete es mich Zeit und Überwindung, sie aus ihrem dunkeln Versteck hervorzuziehen. Sie hatte tatsächlich die Größe eines Kindes, braune, lange Locken und trug ein hübsches Sommerkleid mit einem dazu passenden Hut. Ich hatte sie schon einmal gesehen, dessen war ich mir sicher. In der Halle, als Daxx seinen Facehugger im Spiegel bewundert hatte. Gedankenverloren legte ich die Puppe zu dem Bild am Treppenabsatz.
Das waren alles interessante Indizien, aber ich benötigte bessere Informationen. Ich wollte mehr über die Villa und ihre Vergangenheit erfahren, über die Vergangenheit von Cape Orchid und ihrer Einwohnern. Die Stadtbibliothek lag zu weit entfernt, als dass ich sie hätte erreichen können. Was also blieb mir? Ich ließ meine Blicke umherwandern. Schränke. Tische. Möbel. Kisten. Vasen. Stühle. Zeitungen.
Natürlich: Zeitungen. Alain hatte alle Zeitungen aus der Zeit, in der er in der Villa gelebt hatte, gesammelt. Ich hatte dasselbe getan, vielleicht auch unsere Vorgänger. Aufgeregt lief ich zu dem Stapel, der in einem dunklen Winkel neben einem ausrangierten Eichenschrank gelagert worden war. Er lag auf dem Boden, mit Paketband verschnürt, vor einem alten Vorhang mit einem hässlichen grünrotem Schottenkaromuster. Ich kniete mich davor und begutachtete das oberste Exemplar. Es war eine Ausgabe der Orange Orchid News vom zweiten Februar 1990. Alain musste sie hierher gelegt haben. Gespannt zog ich den Vorhang zur Seite. Dahinter lag eine kleine Kammer, eine Art Erker auf dem Dachboden, mit zwei kleinen Fenstern an der mir gegenüberliegenden Seite. An den Wänden des winzigen Raums stapelten sich Zeitungen, dicht an dicht, bis zur Decke. Wie massive Wände umschlossen sie einen kleinen Campingtisch mit dazu passendem Plastikstuhl in der Mitte der Kammer. Als ich mich erhob, sah ich, dass einige aufgeschlagene Exemplare der Orange Orchid News auf dem Tisch lagen, zusammen mit diversen Stiften, einer alten Öllampe, Streichhölzern und einer Tasse, in der eine braunschwarze Substanz – wahrscheinlich Kaffee – eingetrocknet war.
Ich betrat die Kammer mit der gleichen Ehrfurcht, mit der ich wahrscheinlich auch die Sixtinische Kapelle betreten hätte. Der Abend forderte seinen Tribut, also entzündete ich die kleine Öllampe, die zu meinem Erstaunen tadellos funktionierte und sah mich genauer um. Hie und da lugten Papierstreifen aus den Zeitungssäulen wie getrocknete Zungen. Auf
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