Söhne der Rosen - Die rätselhaften Zwillinge (Gay Phantasy) (German Edition)
der Doppelrose gewachsen war.
Der Mensch ist ein Wesen, das in der einen oder anderen Weise grundsätzlich Angst vor Veränderungen oder Neuem hat, selbst wenn der momentane Zustand beklagenswert ist. Zwar fällt diese Angst mal stärker und mal schwächer aus, aber sie ist vorhanden. Schon Shakespeare, dessen gesammelte Werke erfreulicherweise Bestandteil meiner Bibliothek waren, ließ Hamlet in seinem berühmten Monolog darüber sinnieren, dass ein Mensch, dem es schlecht geht, doch eher das Leben dem Selbstmord vorzieht, aus Angst, was nach dem Tod kommen könnte.
Ich selber hatte keine Angst vor dem Tod. Er stellt das Ende des linearen Zeitablaufs eines Lebewesens dar. Zwar war ich ein Lebewesen und hatte einen Anfang – nämlich meine Geburt -, aber seit meinem neunzehnten Lebensjahr galt für mich kein linearer Zeitablauf mehr.
Wovor also hatte ich an diesem Vormittag Angst gehabt? Sobald ich mir die Frage erstmalig direkt stellte, war die Antwort offensichtlich. Ich hatte Angst davor, zu versagen. Angst, mit dem, was mir bevorstand, nicht so gut fertig zu werden, wie seiner Zeit Alain. Nach all den Jahren liebte ich ihn noch immer wie in dem Sommer, in dem wir uns kennengelernt hatten. Wie sollte ich diese Liebe aufteilen, für jemand Fremdes empfinden? Wer könnte dem Vergleich mit Alain standhalten?
Ich kam mir wie ein Betrüger vor.
„Hilf mir, Dina. Was soll ich tun, hm?“
Bei der Erwähnung ihres Namens hob meine Katze ihr rechtes Augenlid zur Hälfte, blickte mich desinteressiert an und schloss es wieder. Von dieser Seite war keine Hilfe zu erwarten.
„Vielen Dank für nichts. Ich werde das bei deiner nächsten Fütterung berücksichtigen.“
Dina erhob sich, streckte sich und ließ sich auf die Seite fallen, um mir ihren Bauch zu präsentieren. Gedankenverloren kraulte ich ihn. Sollte ich Alain um Rat fragen? Seine Meinung zu dieser Sache wäre in jedem Fall besser, nicht nur, weil er den überaus großen Vorteil gegenüber den Felidae hatte, zwei Daumen zu besitzen, sondern weil er einmal in derselben Situation gesteckt hatte. Diese Idee bereitete mir fast noch mehr Angst. Ich liebte Alain und liebe ihn auch heute noch, aber er sah in mir immer den schwachen, unbeholfenen Jungen, der ich nicht sein wollte. Vielleicht liebte ich ihn, weil er mein Beschützer gewesen war und vielleicht liebte er mich, weil ich beschützt werden musste. Natürlich könnte ich in der Zeit zurückkehren, ihn ausfragen und mich darauf verlassen, dass die Alains, die jetzt existieren und von denen ich einen nach meinem Verlassen der Villa wiedertreffen würde, nichts davon wissen. Aber die Möglichkeit bestand, dass er es eben doch wissen würde. Viel wichtiger aber, ich würde es wissen.
Meine Entscheidung stand damit fest. Abwarten und mich dem Neuen stellen.
Wenn ich nur geahnt hätte, was damit auf mich wartete ...
Wir rannten einen Gang entlang, Alain vor mir, eine Person direkt hinter mir. Obwohl ich sie nicht sah, wusste ich, dass sie zu uns gehörte. Der Gang war weiß gestrichen, Rohrleitungen und Kabelschächte verliefen unter der Decke. An den Wänden waren Streifen mit Richtungspfeilen zu den Notausgängen mit Leuchtfarbe aufgemalt. Die Neonröhren über uns flackerten, zwischen unseren Schritten war ihr elektrisches Summen zu hören. Ihr blitzendes Licht mischte sich mit dem roten Licht einer Alarmbeleuchtung. Ich war außer Atem und ohne Zuversicht, obwohl ich nicht wusste, was ich erhoffte. Weit hinter uns im Gang ertönte das metallische Knarren einer schweren Metalltür, die aufgestoßen wurde. Meine Panik wuchs. Der Gang, in dem wir uns befanden, endete in einem T-Stück. Alain bog nach links und wir folgten ihm. Ein großes Plexiglasschild mit Hinweispfeilen diente als Wegweiser, doch obgleich die Buchstaben darauf groß und deutlich zu erkennen waren, ergaben sie keinen Sinn für mich. Ich rannte so schnell ich konnte, gehetzt wie ein Tier im Scheinwerferlicht, aber der Abstand zwischen Alain und mir wurde immer größer. An der nächsten Kreuzung bog er rechts ab. Mein Versuch, ihn zu rufen, endete in einem kläglichen Ausstoßen gepresster Luft. Als ich endlich die Kreuzung erreichte und ebenfalls abbog, sah ich Alain keine zehn Yard von mir entfernt stehen. Er trug plötzlich einen Kittel und sah mich erschrocken an, seine Gesichtszüge verschwammen, als würde man durch trübes, unruhiges Wasser sehen. Ich blieb abrupt stehen, Puls und Atmung normal, als wäre ich
Weitere Kostenlose Bücher