Soehne & Liebe der Nacht
Henry ihr zukünftiges Opfer begutachtete. Lustlos hatte er sich auf den Weg zu Lara gemacht. Die letzten zwanzig Jahre hatten ihn die Erinnerungen an Diana belastet, sie hatte seine Seele verändert. Auch wenn das Böse in ihm immer wieder an die Oberfläche kam, in seinem Inneren begann ein neues Gefühl zu leben, ein Gefühl, das ihm fremd war. Vor Laras Haus hatte Henry eingesehen, dass er sich seinem Schicksal des Bösen ergeben musste, dass es keinen Ausweg gab. In diesem Moment war Lara aus der Haustür getreten und war das Abbild der Frau, deren Tod ihn mehr berührte, als seine Brüder erfahren durften. Entsetzt hatte er noch einmal die Gefühle durchlebt, die ihn schon vor zwanzig Jahren in ein Desaster gestürzt hatten. Beim ersten Anblick von Diana hatte sich das heiße Gefühl in seinem Herzen mit der Kälte seines Blutes gemischt und seine bisherige Welt des Hasses ins Wanken gebracht, aber am Ende hatte er einen Dolch in der Hand gehalten und Diana war gefesselt an ein Bett ihrem Schicksal nicht entgangen. Damals hatte er Jared gebeten, die Opferung durchführen zu dürfen. Jared hatte geglaubt, die Kalt-blütigkeit in ihm hätte gesiegt, aber er hatte Diana beschützen wollen. Mithilfe seiner mentalen Kräfte der Täuschung hatte Henry Diana die Angst genommen und sie in eine andere Welt geführt. In eine Welt, von der die Verbündeten seines Schöpfers oft sprachen. Henry wusste, sie würde von Kairon nach ihrem Tod in die höchste Ebene geholt. Henry hatte seine ganze Kraft der Täuschung gebraucht, um seine Brüder glauben zu machen, dass sie um ihr Leben schrie. Er musste das Bild eines kaltblütigen Sohnes der Nacht aufrechterhalten. Seine Brüder durften nicht bemerken, dass er eine Auserwählte beschützte. Henry wollte auch Lara beschützen, deshalb hatte er ihr die letzten drei Monate in warnenden Träumen ihr Schicksal vor Augen geführt. Er hatte die Hoffnung, dass Lara die Stadt aus Angst verlässt. Henry hatte schon vor fünf Monaten, als Jared ihm von seinem Plan, Lara zu opfern, erzählt hatte, gewusst, dass er nicht die Kraft finden würde, einen Teil von Diana zu töten, und das war Lara nun einmal. Heute Abend wollte er Lara persönlich warnen, aber nun hatte sie seinen Schutz verspielt. Sie hatte dem Avatar schöne Augen gemacht, seinem schlimmsten Feind, und damit ihr Schicksal besiegelt. Wieder sah Henry zur Kneipentür, die er nur erahnen konnte.
*
Stöhnend sank eine junge Frau an einer Kirchenwand hinab.
„Was für ein leckerer Nachtisch.“ Mit sich zufrieden, zog Michael den Reißverschluss seiner Hose hoch. Er leckte das Blut von seinem Dolch, der die Kehle der Frau durchschnitten hatte. Die Zeit drängte, Henry hatte ihn in eine kleine Eckkneipe bestellt, die schräg gegenüber der Kirche stand, und er hatte überhaupt nicht erfreut geklungen. Michael wechselte die Straßenseite ohne Blick zurück. Unsicher, was ihn erwarten würde, öffnete Michael die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Er sah die Hand vor Augen nicht, wie sollte er Henry in dem stinkenden Nebel finden? Grob wurde Michael am Arm gepackt und an einen der Tische gezogen.
„Warum hat das so lange gedauert?“, fuhr Henry ihn an und drückte ihn auf einen Stuhl.
„Ich habe mich mit zwei großen Brüsten vergnügt. Ich bin gekommen, so schnell ich konnte“, verteidigte sich Michael und sah Henry so unschuldig wie möglich ins Gesicht. Er wusste, er hätte eine Stunde früher hier sein können.
„Du hast eine Platzwunde, was ist passiert?“
„Ein Avatar ist passiert!“, knurrte Henry und kippte sein zwölftes Bier in den Blumentopf, der seine besten Tage längst hinter sich hatte, und neben ihm auf dem von toten Fliegen wimmelnden Fensterbrett stand.
„Ein Avatar?“, Michael griff an seinen Hals und hoffte, er würde seinem Kopf behalten.
„Das sagte ich gerade!“
„Leute, trinkt euer Bier aus, es ist vier Uhr, die Kneipe schließt jetzt!“, rief der glatzköpfige Wirt in die Runde.
„Der würde nicht mal merken, wenn einer geht, ohne zu bezahlen.“
„Entschuldige mal, ich denke, wir haben ernsthaftere Probleme hier“, zischte Henry.
„Wen soll ich töten?“, fragte Michael versöhnlich.
„Niemanden, das Privileg ist meins. Du gehst zu Lara. Wenn du sicher bist, dass der Avatar nicht bei ihr ist, bringst du sie in unser Versteck, den Rest erledige ich.“
„Und der Avatar?“
„Der wird auch sterben, hole Lara und hinterlasse eine Spur, die zu uns führt. Er wird ihr
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