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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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denn in Harem?«
    »Den Busbahnhof. Und am Busbahnhof gibt es Busse, Busse nach Erzurum.«
    »Hat dich deine Mutter hinter mir hergeschickt?«
    »Das hier ist eine Scheißstadt«, sagte ich. Um das zu sagen, hatte ich den schlechtesten Ort gewählt. Der Bosporus erstreckte sich unter uns in all seiner Pracht, und an beiden Ufern leuchtete die Stadt. »Das Panorama trügt. Eigentlich ist Istanbul innerlich verfault. Die Stadt hat uns nicht verdient.« Schweigend strich mir mein Vater über den Kopf. Ich konnte sehen, dass er lächelte. Das spornte mich an. »Wir kaufen in Erzurum ein Grundstück. In unserem Garten pflanzen wir Tomaten und Paprika an. Wenn uns langweilig ist, gehen wir im Wald spazieren. Das Klima ist dort auch viel besser. Mutter wird das guttun. Sie wird ruhiger werden.« Ich redete wie die Miniaturausgabe des Schauspielers Sadri Alışık. Ich glaubte kein einziges Wort von dem, was ich sagte. Ich hatte ohnehin nicht die Absicht, meinen Vater von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen. Und genau dieses Dilemma war es, was meinen Vater dazu bringen sollte, die Reise nach Erzurum anzutreten. Was für eine Teufelsbrut ich doch war!
    Schließlich verlief alles so, wie ich es mir gedacht hatte. Mein Vater beschloss, sich noch in dieser Nacht auf die lange aufgeschobene Fahrt nach Anatolien zu begeben, und fünf Minuten später erreichten wir den Haremer Busbahnhof, der an einen Jahrmarkt erinnerte. Bevor mein Vater ausstieg, drückte er mir ein wenig Geld in die Hand und umarmte mich fest. »Übermorgen komme ich zurück. Macht euch keine Sorgen. Gib deiner Mutter einen Kuss von mir.«
    Zustimmend nickte ich. Ich fürchtete, ich könnte losheulen, wenn ich den Mund aufmachte. Ich wollte meinen Vater nicht im letzten Moment traurig machen. Mein Vater gab mir einen Kuss, stieg aus dem Taxi aus und verschwand im Menschengewühl.
    »Wohin geht’s jetzt?«, fragte der Taxifahrer.
    »In die Ömer-Cemal-Bey-Straße.«
    »Du sagst mir, wo wir lang müssen. Ich bin ein wenig fremd hier.«
    »Ich weiß«, gab ich zurück. Vom Leanderturm wurde ein Feuerwerk abgeschossen, und Rebi Abi schnarchte auf dem Vordersitz. »Wer von uns ist das nicht?«
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zehn
tatsachen und gewissheiten
    Am nächsten Morgen stand ich früh auf und bereitete meiner Mutter ein schönes Frühstück vor. Diese ungewohnte Geste und die Nachricht über die Fahrt meines Vaters nach Erzurum für die Wohnungssuche machten sie an jenem Morgen überaus glücklich. Sie ermahnte mich weitaus weniger als sonst, bevor sie zur Arbeit ging, und gab mir einen Kuss. Ich jedoch war zappelig und aggressiv. Ich hatte keine Geduld mehr, noch länger zu warten. Gleich nach meiner Mutter verließ ich die Wohnung und machte mich auf zu Yüksels Haus.
    Mein Freund, der Honigliebhaber, war keineswegs erfreut, als er mich vor der Tür stehen sah. »Ach, du bist’s. Komm herein«, sagte er mit säuerlicher Miene.
    »Los, Mann, gib den Film her. Ich lass ihn selbst entwickeln.« Besorgt sah er sich um und bedeutete mir, leise zu sein. Er fürchtete, seine Mutter könnte uns hören. »Geh runter in den Garten, unter die Treppe«, flüsterte er. »Ich komme gleich.«
    »Hast du die Bilder etwa entwickelt?« Ich platzte vor Anspannung.
    »Tu, was ich dir sage.« Und zack! knallte er mir die Tür vor der Nase zu.
    Ich hatte keine andere Wahl, als hinunterzugehen und zu warten. Der Mistkerl ließ mich bestimmt zehn Minuten schmoren. Als er dann endlich kam, waren seine Hände leer. Ich war total enttäuscht. Da packte ich ihn am Kragen. »Willst du dich etwa lustig …«
    Mit einer schroffen Bewegung befreite er sich von mir. »Was glaubst du, wer du bist, Mann?«, fuhr er mich an.
    Ich musste mich schwer beherrschen, dem Kerl nicht eine ordentliche Abreibung zu verpassen. »Ich hab keine Zeit für Spielchen.«
    »Wo hast du denn den Film her?«
    »Ich bring dich um, Yüksel«, sagte ich mit zitternder Stimme, »bei Gott, ich bringe dich um.«
    »Das dürfte schwierig sein«, meinte er, doch er war sichtlich beängstigt. Er zog einen großen gelben Umschlag unter seinem Pullover hervor. »Schließlich tut man dir hier einen Gefallen.«
    Eifrig riss ich ihm den Umschlag aus der Hand und warf einen Blick hinein. Beim Anblick der vielen Fotos und der daran gehefteten Negative machte mein Herz einen Sprung. Wortlos drehte ich mich um und entfernte mich. Yüksel rief lange etwas – ich vermute Übles – hinter mir her, aber ich verstand kein

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