Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
hindurchkämpfen müssen – ungefähr wie wir, wenn wir ein Bild oder einen literarischen Text deuten.«
»Und wir träumen jede Nacht?«
»Die neuere Forschung weist darauf hin, dass wir an die zwanzig Prozent der Zeit, in der wir schlafen, auch träumen, das bedeutet, zwei bis drei Stunden jede Nacht. Wenn wir während solcher Phasen gestört werden, reagieren wir nervös und gereizt. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass alle Menschen ein angeborenes Bedürfnis danach haben, ihrer existenziellen Situation künstlerischen Ausdruck zu geben. Der Traum handelt ja von uns. Wir haben die Regie, wir suchen alle Requisiten zusammen, wir spielen alle Rollen. Menschen, die behaupten, nichts von Kunst zu verstehen, kennen sich schlecht.«
»Ich verstehe.«
»Freud hatte außerdem einen beeindruckenden Beweis dafür erbracht, wie phantastisch das menschliche Bewusstsein ist. Seine Arbeit mit den Patienten überzeugte ihn davon, dass wir alles, was wir je gesehen und erlebt haben, tief in unserem Bewusstsein aufbewahren. Diese ganzen Eindrücke können wir auch wieder hervorholen. Wenn wir einen ›Blackout‹ haben, wenn es uns kurz darauf ›auf der Zunge liegt‹, und wenn es uns dann noch etwas später ›plötzlich einfällt‹ – dann reden wir von etwas, das im Unbewussten gelegen hat und plötzlich durch eine halb offene Tür in unser Bewusstsein zurückschlüpft.«
»Aber manchmal dauert das sehr lange.«
»Darüber sind sich alle Künstler im Klaren. Aber dann scheinen plötzlich alle Türen und Archivschubladen offen zu stehen. Alles strömt nur so los – und wir können uns genau die Wörter und Bilder heraussuchen, die wir brauchen. Das passiert, wenn wir die Tür zum Unbewussten ein bisschen weiter aufgemacht haben. Wir können das auch als Inspiration bezeichnen, Sofie. Dann haben wir das Gefühl, dass das, was wir zeichnen oder schreiben, nicht von uns selber stammt.«
»Das muss ein wunderbares Gefühl sein.«
»Aber du hast es ganz sicher auch selber schon erlebt. Diesen inspirierten Zustand können wir zum Beispiel bei übermüdeten Kindern leicht beobachten. Es kommt vor, dass Kinder so müde sind, dass sie hellwach wirken. Doch plötzlich reden sie los – und scheinen Wörter aus dem Gedächtnis hervorzuholen, die sie noch gar nicht gelernt haben. Natürlich haben sie sie gelernt. Sie haben ›latent‹ in ihrem Bewusstsein gelegen, aber erst jetzt – wenn vor Müdigkeit die Vorsicht nachlässt und eine Zensur nicht mehr stattfindet – kommen sie zum Vorschein. Für den Künstler ist die Situation anders. Aber auch für ihn kann es wichtig sein, dass ihm Vernunft und Überlegung etwas kontrollieren, was sich besser frei, spontan und unbewusst entfaltet. Soll ich dir eine kleine Fabel erzählen, die das veranschaulicht?«
»Gerne!«
»Es ist eine sehr ernste und sehr traurige Fabel.«
»Fang einfach an.«
»Es war einmal ein Tausendfüßler, der mit seinen tausend Beinen ganz phantastisch tanzen konnte. Wenn er tanzte, versammelten sich die Tiere des Waldes, um ihm zuzusehen, und alle waren von seiner Tanzkunst zutiefst beeindruckt. Nur ein Tier mochte den Tanz des Tausendfüßlers nicht leiden, eine Kröte ...«
»Die war wohl nur neidisch.«
»Wie schaff ich’s nur, dass der Tausendfüßler zu tanzen aufhört, überlegte sie. Sie konnte ja nicht einfach sagen, dass ihr der Tanz nicht gefiel. Und sie konnte auch nicht behaupten, sie könne selber besser tanzen, denn das würde ihr niemand abnehmen. Schließlich heckte sie einen teuflischen Plan aus.«
»Lass hören!«
»Sie setzte sich hin und schrieb dem Tausendfüßler einen Brief. ›O unvergleichlicher Tausendfüßler!‹ schrieb sie. ›Ich bin eine ergebene Bewunderin deiner erlesenen Tanzkunst. Und ich wüsste gern, wie du beim Tanzen vorgehst. Hebst du erst das linke Bein Nummer 228 und dann das rechte Bein Nummer 59? Oder beginnst du den Tanz, indem du das rechte Bein Nummer 26 und dann erst das rechte Bein Nummer 499 hebst? Ich warte gespannt auf deine Antwort. Freundliche Grüße, die Kröte.‹«
»Pfui Spinne!«
»Als der Tausendfüßler diesen Brief bekam, überlegte er sich zum ersten Mal in seinem Leben, was er beim Tanzen eigentlich machte. Welches Bein bewegte er als Erstes? Und welches Bein kam dann? Und was glaubst du, was dann geschah?«
»Ich glaube, dass der Tausendfüßler nie mehr getanzt hat.«
»Ja, das war das Ende. Genau das kann geschehen, wenn das Denken die Phantasie
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