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Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie

Titel: Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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eigentliches Ich ist. In kurzen Augenblicken können wir uns als identisch mit einem größeren Ich erleben. Manche Mystiker nennen es Gott, andere »Weltseele«, »Allnatur« oder »Weltall«. Im Verschmelzen erlebt der Mystiker, dass er »sich selber verliert«, er verschwindet oder verliert sich in Gott, wie ein Wassertropfen »sich verliert«, wenn er sich mit dem Meer vermischt. Ein indischer Mystiker hat das einmal so ausgedrückt: »Als ich war, war Gott nicht. Jetzt ist Gott, und ich bin nicht mehr.« Der christliche Mystiker Angelus Silesius (1624–1677) sagte: »Das Tröpflein wird das Meer, wenn es ins Meer gekommen, die Seele Gott, wenn sie in Gott ist aufgenommen.«
    Jetzt findest du es vielleicht nicht besonders angenehm, sich »selber zu verlieren«. Doch, Sofie, ich verstehe, was du meinst. Aber es geht darum, dass das, was du verlierst, so unendlich viel geringer ist als das, was du gewinnst. Du verlierst dich selber in der Gestalt, die du im Augenblick hast, aber gleichzeitig begreifst du, dass du in Wirklichkeit etwas unendlich viel Größeres bist. Du bist das gesamte Weltall. Ja, du bist die Weltseele, liebe Sofie. Du bist Gott. Wenn du dich selber als Sofie Amundsen verlieren musst, kannst du dich damit trösten, dass du dieses »Alltags-Ich« sowieso eines Tages hergeben musst. Dein wahres Ich – das du nur erfahren kannst, wenn du es schaffst, dich selber loszulassen – gilt den Mystikern als wundersames Feuer, das in alle Ewigkeit brennt.
    Aber eine solche mystische Erfahrung kommt nicht immer von selber. Der Mystiker muss oft den »Weg der Läuterung und Reinigung« gehen, um Gott begegnen zu können. Dieser Weg besteht aus einer schlichten Lebensweise und der Meditation. Plötzlich erreicht der Mystiker dann sein Ziel und kann rufen: »Ich bin Gott« oder: »Ich bin du!«
    Wir finden in allen großen Weltreligionen mystische Richtungen. Und was die Mystiker über ihr mystisches Erleben schreiben, weist trotz aller kulturellen Unterschiede auffällige Ähnlichkeiten auf. Erst wenn der Mystiker eine religiöse oder philosophische Deutung seines mystischen Erlebnisses versucht, macht sich der kulturelle Hintergrund bemerkbar.
    In der westlichen Mystik – das heißt, im Judentum, im Christentum und im Islam – betont der Mystiker, dass er die Begegnung mit einem persönlichen Gott erlebt. Obwohl Gott in der Natur und in der Menschenseele anwesend ist, ist er doch hoch über diese Welt erhaben. In der östlichen Mystik – also im Hinduismus, im Buddhismus und in der chinesischen Religion – wird eher betont, dass der Mystiker eine totale Verschmelzung mit Gott oder der »Weltseele« erlebt. »Ich bin die Weltseele«, kann der Mystiker sagen, oder: »Ich bin Gott.« Denn Gott ist nicht nur in der Welt anwesend, er ist sonst nirgendwo.
    Vor allem in Indien gab es schon lange vor Platon starke mystische Strömungen. Swami Vivekananda , der dazu beigetragen hat, die Gedanken des Hinduismus in den Westen zu bringen, hat einmal gesagt: »Wie gewisse Religionen auf der Welt einen Menschen, der nicht an einen persönlichen Gott außerhalb seiner selbst glaubt, als Atheisten bezeichnen, sagen wir, ein Mensch, der nicht an sich selber glaubt, sei Atheist. Nicht an die Herrlichkeit der eigenen Seele zu glauben nennen wir Atheismus.«
    Ein mystisches Erlebnis kann auch für die Ethik von Bedeutung sein. Ein früherer indischer Präsident, Radhakrishnan , hat einmal gesagt: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selber, weil du dein Nächster bist . Nur eine Illusion lässt dich glauben, dein Nächster sei ein anderer als du selber.«
    Auch moderne Menschen, die keiner Religion angehören, können von mystischen Erlebnissen berichten. Plötzlich erleben sie etwas, was sie als »kosmisches Bewusstsein« oder »ozeanisches Gefühl« bezeichnen. Sie fühlen sich aus der Zeit herausgerissen und erleben die Welt »aus dem Blickwinkel der Ewigkeit«.
    Sofie setzte sich im Bett auf. Sie musste nachfühlen, ob sie noch immer einen Körper hatte. Während sie über Plotin und die Mystiker gelesen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, durch das Zimmer, zum Fenster hinaus und hoch über der Stadt zu schweben. Sie hatte alle Menschen unten auf dem Marktplatz gesehen, war aber weiter über den Planeten geschwebt, auf dem sie lebte, über die Nordsee und Europa, bis hin zur Sahara und den weiten Steppen Afrikas.
    Der ganze große Globus war zu einer einzigen lebendigen Person geworden und diese Person schien

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