Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Sofie setzte sich auf eine Bank in der Mitte. Sie starrte den Altar und ein altes, in matten Farben bemaltes Kruzifix an.
Einige Minuten verstrichen. Plötzlich setzte die Orgel ein. Sofie wagte nicht, sich umzudrehen. Es klang wie ein sehr alter Choral; sicher stammte auch der aus dem Mittelalter.
Bald wurde es wieder ganz still. Aber dann hörte sie, wie sich hinter ihr Schritte näherten. Ob sie sich jetzt umsehen sollte? Sie durchbohrte lieber weiterhin Christus am Kreuz mit ihren Blicken.
Die Schritte gingen an ihr vorbei und nun sah sie eine Gestalt durch die Kirche schreiten. Die Gestalt trug eine braune Mönchskutte. Sofie hätte schwören können, dass es sich dabei um einen Mönch aus dem Mittelalter handelte.
Sie fürchtete sich, geriet aber nicht in Panik. Vor der Altarbank machte der Mönch einen Bogen und bestieg dann die Kanzel. Er beugte sich über die Brüstung, blickte auf Sofie hinunter und sagte auf Lateinisch:
»Gloria patri et filio et spiritui sancto. Sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum.«
»Sprich Norwegisch, du Dussel!«, rief Sofie.
Die Worte hallten in der alten Steinkirche wider.
Ihr war klar, dass es sich bei dem Mönch um Alberto Knox handeln musste. Trotzdem bereute sie, sich in einer alten Kirche so respektlos ausgedrückt zu haben. Aber sie hatte sich gefürchtet, und wenn man sich fürchtet, ist es manchmal ein Trost, alle Tabus zu brechen.
»Pst!«
Alberto hob eine Hand, wie ein Priester, der die Gemeinde bittet, sich zu setzen.
»Wie spät ist es, mein Kind?«, fragte er.
»Fünf vor vier«, antwortete Sofie, die sich jetzt nicht mehr fürchtete.
»Dann ist es so weit. Jetzt beginnt das Mittelalter.«
»Das Mittelalter fängt um vier Uhr an?«, fragte Sofie verdutzt.
»Ungefähr um vier Uhr, ja. Und dann wurde es fünf und sechs und sieben Uhr. Aber die Zeit schien still zu stehen. Es wurde acht und neun und zehn. Aber es war immer noch Mittelalter, verstehst du? Zeit, um für einen neuen Tag aufzustehen, denkst du vielleicht. Doch, ich verstehe schon, was du meinst. Aber es ist Wochenende, verstehst du, ein einziges langes Wochenende. Es wurde elf und zwölf und dreizehn, diese Zeit bezeichnen wir als Hochmittelalter. Nun wurden die großen Kathedralen in Europa erbaut. Erst gegen vierzehn Uhr krähte hier und da ein Hahn. Und jetzt – erst jetzt neigte sich das lange Mittelalter seinem Ende zu.«
»Dann hat das Mittelalter also zehn Stunden gedauert«, sagte Sofie.
Alberto warf den Kopf, der aus der braunen Mönchskutte lugte, in den Nacken und schaute auf seine Gemeinde, die im Moment nur aus einem vierzehnjährigen Mädchen bestand.
»Wenn eine Stunde hundert Jahre lang ist, dann ja. Wir können uns vorstellen, dass Jesus um Mitternacht geboren wurde. Paulus setzte um kurz vor halb eins zu seinen Missionsreisen an und starb eine Viertelstunde später in Rom. Bis drei Uhr war die christliche Kirche mehr oder weniger verboten, dann wurde das Christentum im Jahre 313 im Römerreich als Religion anerkannt. Das geschah unter Kaiser Konstantin. Der fromme Kaiser ließ sich erst viele Jahre später auf dem Totenbett taufen. Im Jahre 380 wurde das Christentum zur Staatsreligion des gesamten Römischen Reiches.«
»Aber ging das Römische Reich denn nicht unter?«
»Es krachte jedenfalls schon in allen Fugen, ja. Wir stehen vor einem der allerwichtigsten kulturellen Wandel der Geschichte. Im vierten Jahrhundert wurde Rom sowohl von aus dem Norden herandrängenden Volksstämmen als auch von innerer Auflösung bedroht. Im Jahre 330 verlegte Kaiser Konstantin die Hauptstadt des Römischen Reiches nach Konstantinopel, das er selber an der Einfahrt zum Schwarzen Meer gegründet hatte. Die neue Stadt galt von nun an als das ›zweite Rom‹. Im Jahre 395 wurde das Römische Reich aufgeteilt – von nun an gab es das Weströmische Reich mit Rom als Zentrum und das Oströmische Reich , dessen Hauptstadt die neue Stadt Konstantinopel war. 410 wurde Rom von barbarischen Volksstämmen geplündert und 476 ging der gesamte weströmische Staat zu Grunde. Das Oströmische Reich existierte bis ins Jahr 1453, als die Türken Konstantinopel eroberten.«
»Und seither heißt die Stadt Istanbul?«
»Stimmt. Ein weiteres Datum, das wir uns merken müssen, ist das Jahr 529. In diesem Jahr wurde Platons Akademie in Athen geschlossen. Und im selben Jahr wurde der Benediktinerorden gegründet. Das war der erste große Mönchsorden. Auf diese Weise
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