Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
übernommen hat. Das gilt für seine Logik, seine Erkenntnisphilosophie und nicht zuletzt für seine Naturphilosophie. Weißt du zum Beispiel noch, wie Aristoteles eine aufsteigende Skala des Lebens von Pflanzen und Tieren bis zum Menschen beschrieben hat?«
Sofie nickte.
»Schon Aristoteles glaubte, dass diese Skala auf einen Gott hinweise, der eine Art Existenzmaximum darstelle. Dieses Schema war leicht an die christliche Theologie anzupassen. Thomas glaubt an einen steigenden Existenzgrad von Pflanzen und Tieren zu Menschen, von Menschen zu Engeln und von den Engeln zu Gott. Der Mensch hat wie die Tiere einen Körper mit Sinnesorganen, aber der Mensch hat auch eine ›durchdenkende‹ Vernunft. Die Engel haben weder Körper noch Sinnesorgane, aber dafür haben sie eine unmittelbare und augenblickliche Intelligenz. Sie brauchen nicht ›nachzudenken‹, wie die Menschen, sie brauchen keine Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie wissen alles, was Menschen wissen können, brauchen sich aber nicht schrittweise vorwärts zu tasten wie wir. Weil die Engel keinen Körper haben, werden sie auch niemals sterben. Sie sind zwar nicht ewig wie Gott, denn auch sie sind einst von Gott geschaffen worden. Aber sie haben keinen Körper, von dem sie getrennt werden könnten, und deshalb werden sie niemals sterben.«
»Das hört sich ja wundervoll an.«
»Aber über den Engeln thront Gott, Sofie. Er kann in einer einzigen zusammenhängenden Vision alles sehen und wissen.«
»Dann sieht er uns jetzt auch.«
»Ja, vielleicht sieht er uns. Aber nicht ›jetzt‹. Für Gott existiert die Zeit nicht so wie für uns. Unser ›Jetzt‹ ist nicht Gottes ›Jetzt‹. Dass für uns einige Wochen vergehen, braucht nicht zu bedeuten, dass sie auch für Gott vergehen.«
»Das ist aber unheimlich!«, rutschte es Sofie heraus. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Alberto sah sie an und Sofie erklärte:
»Ich habe wieder eine Karte von Hildes Vater bekommen. Er hat so ungefähr geschrieben, dass für sie nicht dieselbe Zeit vergehen muss, auch wenn für Sofie eine Woche vergeht. Fast genau dasselbe hast du doch über Gott gesagt!«
Sofie konnte sehen, wie sich das Gesicht in der braunen Kapuze zu einer heftigen Grimasse verzerrte.
»Der sollte sich schämen!«
Sofie begriff nicht, wie Alberto das meinte, vielleicht war es auch nur eine Redensart. Er fuhr fort:
»Leider übernahm Thomas von Aquin auch Aristoteles’ Frauenbild. Du weißt vielleicht noch, dass Aristoteles die Frau für eine Art unvollkommenen Mann hielt. Er glaubte außerdem, dass die Kinder nur die Eigenschaften des Vaters erbten. Denn die Frau sei passiv und empfangend, der Mann dagegen aktiv und formend. Solche Überlegungen stimmten mit den Worten der Bibel überein, fand Thomas – wo zum Beispiel steht, die Frau sei aus der Rippe des Mannes geschaffen worden.«
»Quatsch!«
»Vielleicht ist es wichtig, hinzuzufügen, dass die weibliche Eizelle erst 1827 nachgewiesen wurde. Deshalb war es vielleicht nicht so überraschend, dass sie den Mann für den Formenden und Lebengebenden bei der Fortpflanzung hielten. Wir können uns außerdem merken, dass Thomas die Frau nur als Naturwesen für dem Mann untergeordnet hielt. Die Seele der Frau ist für ihn ebenso viel wert wie die des Mannes. Im Himmel besteht Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, ganz einfach, weil es keine körperlichen Geschlechtsunterschiede mehr gibt.«
»Das ist aber ein magerer Trost. Gab es denn im Mittelalter keine Philosophinnen?«
»Die Kirche war im Mittelalter sehr stark von Männern dominiert. Aber das heißt nicht, dass es keine Denkerinnen gegeben hätte. Eine davon war Hildegard von Bingen ...«
Sofie riss die Augen auf:
»Hat sie etwas mit Hilde zu tun?«
»Du stellst vielleicht Fragen! Hildegard lebte von 1098 bis 1179 als Nonne im Rheinland. Sie war eine Frau, arbeitete aber trotzdem als Predigerin, Schriftstellerin, Ärztin, Botanikerin und Naturforscherin. Sie war vielleicht ein Beispiel dafür, dass Frauen im Mittelalter oft praktischer – ja, und wissenschaftlicher – waren als Männer.«
»Ich habe gefragt, ob sie etwas mit Hilde zu tun hat!«
»Es gab eine alte christliche und jüdische Vorstellung, dass Gott nicht nur Mann sei. Er habe auch eine weibliche Seite oder ›Mutternatur‹. Denn auch die Frau sei als Ebenbild Gottes erschaffen. Auf Griechisch hieß diese weibliche Seite Gottes Sophia . ›Sophia‹ oder ›Sofie‹ bedeutet ›Weisheit‹.«
Sofie
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