Sog des Grauens
Dreißigtausend? Man muß abwägen bei solchen Dingen.«
Wyatt schwieg. Er wußte, daß sein Gewissen mit dieser Sache belastet war und daß es ihn immer schmerzen würde. Aber er konnte immer noch versuchen, Favel von seinem Entschluß abzubringen, die Regierungstruppen einzukesseln und zu vernichten. Er sagte: »Ist noch weiteres Töten notwendig? Müssen Sie vor St. Pierre stehenbleiben und kämpfen? Wie viele werden Sie in der Stadt umbringen, Julio? Fünftausend? Zehn- oder Fünfzehntausend?«
»Es ist zu spät«, sagte Favel nüchtern. »Ich kann nicht mehr anders, auch wenn ich wollte. Die Evakuierung hat viel Zeit gebraucht – sie ist noch nicht beendet –, und meine Leute haben Glück, wenn sie noch rechtzeitig in ihre vorbereiteten Stellungen kommen.« Er wurde sardonisch. »Ich bin kein Christ – das ist ein Luxus, den sich nur wenige ehrliche Politiker leisten können –, aber ich kann mich doch auf die Bibel berufen. Der Herrgott teilte die Wasser und ließ die Kinder Israels trockenen Fußes durch das Meer ziehen; aber er hielt seine Hand an und ertränkte die verfolgenden Ägypter – mit Mann und Roß und Wagen wurden sie im Roten Meer vernichtet.«
Der Wagen hielt an einem Kontrollpunkt, hinter dem Wyatt eine lange Kolonne von Flüchtlingen sah, die sich aus einer Seitenstraße ergoß. Ein Rebellenoffizier kam heran und konferierte mit Favel, und ein Weißer winkte und kam herübergeeilt. Es war Causton. »Sie haben sich aber Zeit gelassen«, sagte er. »Wie weit ist die Regierungsarmee in die Stadt vorgedrungen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Wyatt. Er kletterte von dem Wagen herunter. »Was geht hier oben vor?«
Causton zeigte auf die Flüchtlinge. »Die letzten von den vielen«, sagte er. »In einer Viertelstunde müßten sie alle durch sein.« Er streckte seine Arme nach beiden Seiten aus. »Hier wird Favel in Stellung gehen – hier ist die Fünfundzwanzigmeter-Konturlinie.« Seine Hemdsärmel flatterten in dem stärker werdenden Wind. »Ich habe schon ein Loch für uns ausgesucht – es sei denn, Sie möchten weiter hinauf ins Negrito-Tal.«
»Sie bleiben also hier?«
»Natürlich«, sagte Causton erstaunt. »Hier spielt sich doch die Hauptsache ab. Dawson ist auch hier; er sagte, er wartet auf Sie.«
Wyatt drehte sich um und sah über die Stadt hin. In der Ferne sah er die See, die nicht mehr wie ein gehämmerter Silberteller aussah, sondern die schmutzige Farbe von ungeputztem Zinn angenommen hatte. Der südliche Himmel war von der niedrigen eisengrauen Wand des heranziehenden Nimbostratus erfüllt, der schwere Regengüsse und heulenden Sturm mitbrachte. Schon war es merklich dunkler durch das Absinken der Wolken und den Rauch von der Stadt.
Über dem schwachen Pfeifen des Windes hörte er den Kampflärm, hauptsächlich Gewehrfeuer und fast keine Artillerie. Der Lärm schwoll mit den Windböen an und ab und schien manchmal weiter weg und manchmal sehr nahe zu sein. Das Gelände fiel zur Stadt hin ab, und zwischen dem kleinen Höhenrücken, auf dem er stand, und den nächsten Häusern war keine Menschenseele zu sehen. »Ich bleibe hier«, sagte er abrupt. »Obwohl ich beim besten Willen nicht weiß, warum.« Natürlich wußte er es wohl. Sein Verlangen war eine merkwürdige Mischung aus dem beruflichen Interesse zu sehen, wie sich der Hurrikan in der seichten Bucht auswirkte, und aus der makabren Anziehungskraft, die der Anblick einer dem Untergang geweihten Stadt und einer dem Untergang geweihten Armee auf ihn ausübte. Er blickte die Straße hinauf. »Wo ist Favels Verteidigungslinie genau?«
»Auf dem Kamm. Dort sind Stellungen auf dem rückwärtigen Hang ausgehoben – die Leute können sich dort hinunter flüchten, wenn das Wetter zu schlimm wird.«
»Ich hoffe, die Löcher haben gute Wasserabläufe«, sagte Wyatt. »Es wird stärker regnen, als Sie es je regnen gesehen haben. Ein Loch ohne Abfluß wird im Nu voll sein.«
»Favel hat daran gedacht«, sagte Causton. »Er ist nicht dumm.«
»Er hat mich über Regenfälle befragt«, sagte Wyatt. »Ich nehme an, das ist der Grund.«
Favel rief: »Mr. Wyatt, der Gefechtsstand ist etwa dreihundert Meter weiter oben eingerichtet worden.«
»Ich bleibe hier bei Causton«, sagte Wyatt, während er sich dem Wagen näherte.
»Wie Sie wollen.« Favels Lippen verzogen sich. »Es gibt jetzt weder für Sie noch für mich noch viel zu tun, außer vielleicht ein Gebet an Hunraken oder einen anderen passenden Gott zu richten.« Er
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