Sohn Der Nacht
»Gerechtigkeit, ja. Was bist du doch für ein Idealist, Merrick! Und doch muß ich gestehen, daß ein Teil von mir das immer bewundert hat. Ich erinnere mich noch, daß du das Blut nicht getrunken hast, das der Marquis zum Dinner servierte, weil du nicht wußtest, woher es kam. Die übrigen Gäste hielten dich für reichlich merkwürdig wegen deiner Gewohnheit, nur von Dieben und Killern zu trinken, aber sie haben dir deinen Willen gelassen. Ich glaube, ich wußte schon damals, wohin du steuertest. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, aber dein Idealismus verfolgte
mich wie ein Spuk. Und wir anderen haben dich auch verfolgt wie ein Spuk, nicht wahr? Du wolltest nicht mit uns trinken, aber du suchtest weiterhin unsere Gesellschaft - in Spanien, Preußen, der Gascogne, an all den anderen Orten -, weil du die Einsamkeit gehaßt hast.
Dann hast du einen Sauger gezeugt. Danach bist du nie wieder in ein anderes Refugium gekommen. Als dein eigener Sohn vor dir davonrannte, fühltest du dich von deiner eige nen Art zurückgestoßen. Der Würfel war gefallen. Du woll test an uns bestrafen, was du in dir selbst so sehr verabscheut hast und bist zur Heimsuchung für Männer wie den Marquis geworden.«
Merrick zwang sich, tief Luft zu holen und langsam auszuatmen. »Das betrifft nicht alle Blutsauger, Sandeman. Das ist, wie du schon sagtest, eine Sache zwischen Zane und mir. Und es geht auch nicht um Bestrafung. Wenn er aufhören würde zu töten, selbst jetzt noch ... Aber das würde er nicht. Und ich bin verantwortlich.« »Er ist verantwortlich.«
»Er ist mein Sohn. Ich habe ihm Blut gegeben.« »Genau. Er ist dein Sohn.«
»Was willst du von mir?« fragte Merrick. »Daß ich sage, auch ich bin ein Blutsauger? Meinst du nicht, ich wüßte das? Ich gehe die Straße entlang und bemerke die Vene in der Kehle eines Mannes, und plötzlich verlangt es mich danach, ihn zu töten. Merrick Chapman, Detective der Mordkommis sion, blickt auf einen Leichnam mit einer blutigen, zerrissenen Kehle hinunter, und er spürt den Schauder des Tötens. Ihn dürstet. Blutige Hölle, Sandeman, an jedem Tag meines Lebens kämpfe ich darum, wie ein Mensch zu fühlen, nicht wie ein Biest. In meinem Herzen bin ich ein bösartiger Killer. Ist das gut genug für dich? Aber ich tue es nicht, hörst du mich? Ich tue es nicht.«
Sandemans Gesichtsausdruck entspannte sich. »Armer Merrick, der Löwe, der bei den Lämmern liegt.«
Merrick schluckte und versuchte, sich wieder unter Kon trolle zu bringen. Aber der Groll brannte noch immer in ihm. »Ausgerechnet du fragst mich solche Sachen - du, der du dein Leben hingibst. Warum hast du selbst denn aufgehört, die Normalen zu töten?«
Sandeman schloß die Augen. Einen langen Augenblick sagte er gar nichts. »Weil sie aussehen wie wir«, flüsterte er schließlich. »Wir sind das einzige Raubtier auf Erden, das genauso aussieht wie seine Beute. Die Natur hat uns die per fekte Tarnung mitgegeben, Merrick. Vielleicht tarnt sie uns am Ende zu gut und täuscht nicht einfach nur meine Beute, sondern auch mich selbst.«
»Du hast dich nicht getäuscht. Sie sind unsere Brüder.«
»Ich weiß nicht. Unsere Unterschiede sind ja auch sehr real.« Sandeman schüttelte langsam den Kopf. »Ich wollte, ich könnte mit ihnen so umgehen wie du - vielleicht brauchte ich dann nicht hier drinnen zu sein.«
»Du hast nie eine von ihnen geliebt?« fragte Merrick ver wundert.
Sandemans Augen schienen in unendliche Fernen zu blicken, dann verschwand dieser Ausdruck wieder ganz abrupt, als sei er durch einen reinen Willensakt beendet wor den. »Es gab hier und da Normale, die ich vielleicht hätte lie ben können«, sagte er brüsk. »Aber ich wußte, daß ich nicht in der Lage wäre, den Schmerz zu ertragen, wenn es Zeit zur Trennung würde. Den Schmerz, vor ihnen davonlaufen zu müssen, bevor sie alt wurden und starben. Wie kannst du das ertragen, Merrick? Was bekommst du von ihnen, das solche Qualen wert wäre?«
»Die Erinnerung daran, was es bedeutet, jung zu sein.«
Sandeman legte den Kopf zur Seite. »Ist das nicht aber ebenfalls schmerzlich.«
»Sie bringen mich zum Lachen, Sandeman. Sie lösen Gefühle in mir aus. Wenn es mitunter wie die Hölle schmerzt, dann ist es eben so. Hat dir deine Lebensweise etwa weniger Schmerzen bereitet?«
Sandeman blickte sich in seinem kleinen Zimmer um. »Das
ist nicht meine Lebensweise. Für mich ist es die einzige.« Er deutete auf seinen schwankenden Stapel von
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