Sohn Der Nacht
nachgedacht, seit ich zum letzten Mal hier war, wo er sich verstecken könnte?«
Sandeman starrte mit einem meditativen Ausdruck auf dem Gesicht ins Leere. »Um zu erraten, wo Zane hingehen würde, müssen wir denken wie Zane. Nicht einfach ich, alter Freund. Du. Er ist dein Sohn.«
»Wohl wahr, aber ich kenne ihn nicht.«
Sandeman sah ihn an. »Warum hast du Angst, dich in ihn hineinzuversetzen? Glaubst du, er könnte dich infizieren?«
»Ich sag' dir, es ist einfach zu lange her, seit wir zusammen waren. Er ist nicht mehr der Junge, der vor so langer Zeit von mir weggelaufen ist.«
Sandeman wandte seinen Blick wieder auf ein entferntes, aber inneres Bild, wobei er die Wand hinter Merrick anstarrte, als sei sie tausend Schritt entfernt. »Erinnerst du dich noch an die Party, die der Marquis de Lucientes gegeben hatte?«
Merrick Chapman überlegte hin und her, und schließlich fiel ihm wieder ein, worauf Sandeman sich bezog: die Burg in Spanien. Obwohl es mindestens fünfhundert Jahre her war, sah Merrick das Gemäuer noch immer vor sich. Die gewun denen steinernen Korridore, flackerndes Kerzenlicht, zehn Sauger aus sechs Königreichen Europas, die vierzehn Tage zusammengekommen waren, um die Gesellschaft der anderen in der Abgeschiedenheit zu genießen. Der Marquis war
der jüngste von uns, erinnerte Merrick sich - erst hundert undzwanzig. Sandeman war der älteste. Ich war vierhundert. Zane sollte erst zehn Jahre später das Licht der Welt erblicken.
»Ich erinnere mich«, sagte er.
»Erinnerst du dich auch an die Gemälde?« fragte Sande man.
Merrick nickte. Ein Sauger mit Namen Cloce hatte eine Kol lektion seiner Werke mitgebracht. Die Gemälde waren bemer kenswert. Wenn sie in einem Museum ausgestellt worden wären, hätten sie Cloce mit Sicherheit so berühmt - oder viel leicht verrufen - gemacht, daß er Schwierigkeiten gehabt hätte, eine neue Identität anzunehmen, wie das alle Blutsau ger periodisch mußten. Im Grunde genommen hatte Cloce die abstrakte Kunst bereits Jahrhunderte, bevor sie in der Welt der normalen Menschlichen eine Kontroverse auslöste, erfun den.
»Du weißt natürlich«, sagte Sandeman, »daß Cloce später Cezanne beeinflußt hat.«
»In der Tat.«
»Er mußte nahezu dreihundert Jahre warten, und er hielt sich selbst vollständig im Hintergrund, aber Cloce hatte schließlich seine Genugtuung, wenn auch nicht den Ruhm, seine Ideen vor der Welt ausgebreitet zu sehen. Und erinnerst du dich noch an den Orgelmusiker, der für uns in der Burg gespielt hat?«
Merrick sagte nichts. Er fing an zu begreifen, worauf Sandeman hinauswollte, und das gefiel ihm nicht.
»Ein wahrer Maestro«, fuhr Sandeman fort. »Perfekter Klang, fein nuanciert. Ich konnte danach nie wieder zuhören, wenn ein Normaler gespielt hat. Hundertfünfzig Jahre später unterrichtete er Buxtehude, und noch später stellte er Bach dem Markgrafen von Brandenburg vor.«
»Und wie viele hat er getötet?«
»Zu viele, da bin ich sicher«, sagte Sandeman. »Aber wir haben Zugeständnisse gemacht, oder nicht? Wir haben viel gegeben für das, was wir genommen haben.«
»Der Preis ist zu hoch.«
»Ich frage mich, ob die Normalen, die durch Bluttransfu sionen gerettet wurden, da zustimmen würden.«
»Sie wären auch ohne meine Hilfe draufgekommen.«
»Vielleicht«, sagte Sandeman. »Aber wenn das bis nach dem Zweiten Weltkrieg nicht geschehen wäre, wie viele wären dann in der Zwischenzeit gestorben?«
»Vielleicht weniger, als ich getötet habe, bevor ich ent deckte, daß man es machen kann.« Merrick hörte den Selbst vorwurf in der eigenen Stimme und spürte Abwehr gegen Sandeman. »Wenn du der Meinung bist, das Töten könnte gerechtfertigt werden, warum hast du dich dann selbst hier eingeschlossen?«
»Ich glaube nicht, daß es gerechtfertigt werden kann. Aber du bist nicht wegen mir hier, sondern wegen Zane. Zane würde es nicht einmal in den Sinn kommen, die Tötung eines Normalen zu rechtfertigen, genauso wenig, wie der durch schnittliche Normale denken würde, er habe es zu rechtferti gen, daß er bei McDonald's einen Hamburger ißt. Und das ist alles, was Normale für Zane bedeuten - Schlachtvieh.«
»Er ist im Irrtum.«
Sandeman blickte Merrick an. »Wirklich? Oder beurteilst du das Raubtier nach den Regeln der Beute?«
Merricks Verärgerung wuchs. »Raubtiere, Beute - vergißt du, daß wir alle Menschen sind? Und wenn wir nicht urteilen können, was wird aus der Gerechtigkeit?«
Sandeman seufzte.
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