Sohn der Verdammnis: Die Chronik der Erzengel. Roman (German Edition)
zuvor gesehen.
Bei der Messe auf dem Bild des Heilands mit dem blutenden Herzen, als er bei seiner Erstkommunion vor dem Altar kniete.
In den Gemälden von Michelangelo und Raffael, von Fra Angelico, Leonardo da Vinci, Rembrandt und Botticelli.
Zu Weihnachten und Ostern. In Lilians Privatkapelle.
In Lawrence’ Mönchszelle.
Es war das bekannteste Gesicht der Welt. Und dennoch lag darin überhaupt nichts Bekanntes.
Er blickte in das Antlitz eines Königs. Herrscherlich. Siegreich.
Der Fremde streckte seine Hand aus und berührte Nicks Brust.
Nicks gesamter Körper erbebte unter heftigen Zuckungen, während er verzweifelt nach Luft schnappte.
Es war, als ob Bögen flammenden Feuers durch seine Adern schössen, wie eine gewaltsame elektrische Entladung. Er taumelte zurück und stieß gegen das Podest mit der Glasglocke, unter der das Kreuz gelegen hatte. Die alles verzehrenden Wellen aus Licht umspülten ihn. Badeten ihn. Wuschen ihn rein.
Und die ganze Zeit blickte Nick unentwegt in das Gesicht des Fremden.
Er fühlte sich, als ob er von einer unvorstellbaren Woge aus Licht überschwemmt würde, die durch jede Zelle seines Körpers drang und sie mit Kraft erfüllte. Er fühlte sich lebendig. So lebendig wie noch nie in seiner ganzen bisherigen Existenz.
Bilder aus seinem Leben blitzten vor ihm auf. Die Nacht von Lilys Unfall. Nick und Jason im Streit. Nick in Amsterdam, sich einen Schuss setzend. In Rom. In Monte Carlo. Kokain schnupfend in Miami. In Soho.
Tausend Nächte. Mit zahllosen, gesichtslosen Partnern im Bett. Männern. Und Frauen.
Und immer noch blickte er in das Gesicht des Fremden. Und fühlte sich verstanden, akzeptiert. Von Liebe umfangen.
Keine Sünde beschönigt. Doch gesehen als das, was sie war. Jeder Fehler aufgedeckt. Jede Schwachstelle offenbart.
Und dennoch erwiderte der Fremde seinen Blick mit unendlicher Güte.
Und Nick erinnerte sich an die längst vergangene Zeit der Unschuld.
»Vergib mir«, keuchte Nick. Tränen strömten ihm über das Gesicht. Er brach in die Knie, krümmte sich auf dem Boden. Seine Augen schlossen sich.
Verzweifelt mühte er sich, die schweren Lider zu öffnen, um einen letzten Blick auf jenes Gesicht zu werfen, von dem er instinktiv wusste, dass er es diesseits der Ewigkeit nie wieder erschauen würde. Nur einen einzigen Blick …
Flehend streckte er die zitternde Hand zu dem Fremden aus.
Seine Lider waren schwer … so schwer.
Einen allerletzten Blick …
Der Fremde nahm seine Hand.
Und als er fiel … hinabfiel in die Dunkelheit des Vergessens, wurde Nick De Vere mit einem Mal über alle Zweifel hinaus klar, was er gesehen hatte.
Es war kein Fremder gewesen, der da vor ihm gestanden hatte.
Er hatte in das unverhüllte Antlitz Jesu Christi geblickt.
XVIII
TREIBSAND
G abriel stand schweigend neben Jether, der neben Nick De Vere kniete und ihn musterte.
Die hässlichen Geschwüre auf Nicks Körper waren dabei zu verblassen. Die tiefen Furchen zwischen den Rippen, die sich unter der Haut abgezeichnet hatten, füllten sich vor ihren Augen.
Gabriel blickte auf das schimmernde weiße Zeichen auf Nicks Stirn.
»Er trägt das Siegel«, flüsterte der Erzengel.
»Oh, was ist der Mensch, dass Er seiner gedenke?«, sprach Jether leise. Er streckte die Hand aus und strich Nick sanft das schweißfeuchte Haar aus der Stirn. Alle sonstigen Zeichen seiner früheren körperlichen und seelischen Qual waren verschwunden. Auf Nicks Gesicht lag eine tiefe Ruhe. Selbst im tiefen Schlaf lächelte er.
»Er muss ruhen.« Jether stand auf. »Dann wird er in die dunkle Nacht seiner Seele eintreten.«
Er beugte sich nieder, nahm Nicholas De Vere in seine Arme und hob ihn auf, als wäre er ein Kind. So trug er ihn durch die alten, gewundenen Gänge des Klosters zu Nicks Schlafkammer auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes.
Als er die Zelle verließ, dämmerte über der Wüste bereits der Morgen herauf.
»Nicholas! Nicholas!« Lawrence St. Cartier rüttelte Nick mit sanfter Hand wach.
Nick war immer noch im Tiefschlaf gefangen. Verstört öffnete er die Augen.
»Nick, aufwachen!«
Der junge Mann richtete sich im Bett auf.
Lawrence zog den Vorhang am Fenster hinter Nicks Bett auf. Tageslicht flutete herein. Nick kniff die Augen zusammen.
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Zwei Tage.«
»Zwei Tage?« Nick runzelte die Stirn. »War ich krank? Ich habe seltsame Dinge geträumt, Law–«
Seine Stimme brach mitten im Wort ab. Er
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