SO!KIA: Die vergangene Zukunft (German Edition)
lag, als ihr Boot plötzlich stark nach Steuerbord in Schräglage geriet.
Yusuf ließ die Plastikflasche fallen, die erst das Holz der Bordwand, dann aufs Wasser traf, in dem sie sich langsam und mit zunehmender Schräglage entfernte, während er den Mund öffnete, im unnützen Versuch, Worte zu artikulieren, die jedoch seine Augen klar ausdrückten.
Angst.
Mamoud unterdessen starrte auf eine der Angelschnüre, die singend gespannt erst nach Steuerbord, dann nach achteraus zeigte.
Urplötzlich gewann das Boot wieder sein Gleichgewicht zurück. Die Angelschnur verlor die bisherige, singende Spannung.
Mamoud ließ seine Blicke über das Deck wandern, bemerkte sofort den Verlust zweier Plastikfässer plus deren Inhalt.
Dort schwammen sie, drei, vier Meter entfernt, um auch schon unter der Wasseroberfläche zu verschwinden.
Aufsteigende kleingehackte Fischleichen zeigten die Untergangsstelle an.
Diese Angelegenheit kam einer Katastrophe sehr nahe. Ein Teil des Fanges und, was noch viel, viel schlimmer war, Frischwasservorräte waren unrettbar verloren.
Doch ehe Mamoud darüber klagen konnte, ging ein erneuter, viel gewaltigerer Ruck durch die Angelschnur, die jedoch unerwarteterweise nicht riss.
Wieder geriet das Boot in Kentergefahr.
Yusuf hatte inzwischen seine Angelsehne vergessen, war bis in die Bootsmitte gekrochen und umarmte genau in diesem Augenblick die Mastbasis, erschrockene Blicke um sich werfend.
Ins Extreme gespannt, zeigte die Sehne nun unter dem Heck hindurch unter das Boot, dann wieder nach Steuerbord.
Den letzten noch an Deck verbliebenen Plastikbehälter und dessen Inhalt konnte Mamoud gerade noch rechtzeitig vor dem Überbordgehen beidhändig retten, doch es fehlte nur wenig, dass Behälter und Mann außenbords gingen.
Der Zug auf die Leine wurde nun so stark, dass das Boot über Steuerbord verdriftet wurde.
Noch hatte Mamoud das Schlachtermesser nicht aus der Hand verloren, war bereit, die Angelleine zu kappen, als sich das Boot wieder aufrichtete und hin und her schwoite.
Einige Augenblicke lang geschah nichts.
Yusuf ließ den Mast los.
Seine Augen suchten die von Mamoud, tasteten dessen vom Schweiß überströmtes Gesicht hilfesuchend ab.
Mamoud zögerte. Wusste nicht recht, was er tun sollte.
Jetzt schauten beide auf die Leine.
„Allah, stehe uns bei“, sagte Mamoud mit erstickter Stimme und einem Knoten im Hals.
Minuten tickten langsam vorbei, während zwei weiße Möwen mit langen roten Schnäbeln und schwarzen Flügelfedern das Boot dicht über dem Wasser fliegend umkreisten.
Nichts Neues.
Mamoud legte das Messer beiseite, nahm die Angelleine erst in die eine, dann in die andere Hand und holte diese langsam und mit angespannten Sinnen ein, immer bereit loszulassen.
Keine Gegenwehr.
Etwas sehr Schweres hing und zog an der Leine, das war Mamoud bewusst.
Er wickelte die Angelleine zweimal um einen hölzernen Belegnagel, der eigentlich zur Befestigung eines Riemens gedacht war, nun aber einen möglichen neuen Zug der Sehne und damit das schmerzliche Einschneiden in seine Finger verhinderte.
Zug um Zug holte Mamoud die Angelleine ein.
Yusuf beobachtet alles mit dem vom Boden aufgenommenen Messer in der rechten Hand.
Und dann kam es, wie es kommen musste: der nächste heftige Zug, äußerste Spannung und ein neuerliches heftiges Auswandern der Leine.
Bestimmt sah der gefangene Fisch die helle, sonnenbeschienene Wasseroberfläche, erschrak, wollte nur noch weg, hinab in die dunkle, ihn schützende Tiefe.
Der im Maul verhakte Stahl verhinderte es, und seine Kräfte ließen nach.
Mamoud hatte dies erwartet, ließ das Tier gewähren.
Yusuf erhob das Messer und machte Anstalten, die Leine zu kappen. Mamoud schüttelte verneinend den Kopf.
Das war jetzt eine Angelegenheit des Stolzes.
Der Fisch dort unten hatte ihnen Fang und Trinkwasser geraubt und so einfach war die Sache nicht zu begleichen.
Es gab und konnte nur einen Sieger geben und der Fisch sollte bestimmt nicht auf der obersten Podiumsstufe Platz nehmen.
Mamoud holte die Leine immer dann ein, wenn die Gegenwehr am schwächsten war.
Nun erschien ein Schatten unter der Wasseroberfläche.
Weiß und hellgrau.
Danach eine Flosse, ein großer Fischkörper, vielleicht zwei oder drei Meter lang, eine schlagende Schwanzflosse.
Im Maul des Hais steckte der Kopf eines kleinen Groopers mit herausquellender Zunge und austretenden Glupschaugen.
Yuri Pasow
30. Mai, Morgengrauen
Seit zwölf Monaten, vier
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