Sokops Rache
in dessen Heimat gezogen ist, und zwei Cousins in Brandenburg – hat sie so gut wie keinen Kontakt mehr. Ihr einziger Bruder ist, als sie selbst dreizehn war, bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Sie kritzelt das Kennzeichen von Henrys Wagen auf ihren Block. Er wird zu überrascht sein, wenn sie ihn hier anspricht, um sich ernsthaft zu freuen. Das hat sie schon in Waldeck gemerkt: Er ist kein spontaner Mensch. Einmal hatte sie Kuchen mitgebracht, weil sie in Erfahrung gebracht hatte, dass sein Geburtstag in der Woche vor ihrem Besuch lag. Er hat sie nur angesehen, mit einem so starren Blick, dass ihr ganz beklommen zumute geworden ist. Nein, sie wird ihm nachfahren und herausfinden, wo er wohnt. Vielleicht wird sie ihn dort vor seinem Haus ansprechen, vielleicht so tun, als wäre ihr Treffen zufällig und sie selbst in Eile. Dann müsste er sich nicht verpflichtet fühlen, sie in seine Wohnung einzuladen. Immer schön langsam, Sonja. Er ist wie ein seltener Amazonasvogel, den es in eine Großstadt verschlagen hat. Gib ihm Zeit, sich an alles zu gewöhnen. Auch an dich, an deine Liebe.
* * *
ACHTE DIE WÜRDE DER ANDEREN MENSCHEN!
VERÄNDERE UND ENTWICKLE DICH WEITER – IMMER!
SEI FAIR UND EHRLICH IM UMGANG MIT ANDEREN!
Henry starrt auf die an der Wand hängenden Papierbögen mit den gedruckten Botschaften an Wellers Klienten. Die Besucherstühle sind so ausgerichtet, dass man von jedem aus die Sätze lesen kann. Henry fragt sich, ob das System hat, ob man so etwas auf der Sozialpädagogenschule lernt. Methoden der wohlmeinenden Manipulation oder wie auch immer das entsprechende Fach heißen mag. Er hat schon bei seinem ersten Besuch über diese Brachialpädagogik lächeln müssen. Doch wer weiß – möglicherweise hat sie auf simplere Naturen Wirkung. Daran, dass Wellers übliche Kundschaft eher aus Schulabbrechern, geborenen Sozialhilfeempfängern und anderweitig Benachteiligten besteht, hat Henry keine Zweifel. Er hat die Population der Strafanstalt zur Genüge studieren können. Jene, die etwas auf dem Kasten haben, landen im Normalfall selten hinter Gittern. Die Überlegungen, weshalb er selbst dorthin gelangt ist, sind jahrelang der Quell tiefster Verzweiflung und mit äußerster Mühe kaschierter Hassphantasien gewesen. In Wahrheit gab es keinen Grund dafür, nur diese Ironie des Schicksals, diesen zynischen Kommentar des Universums zu seiner kindischen Naivität, zu der übermächtigen Sehnsucht, seinem Vater nahe zu sein. Eins war ihm gleich im ersten Haftjahr klar geworden: Er durfte nie, niemals irgend jemandem Einblick erlauben. Gerade auf ihn, den tatleugnenden Vatermörder, hatten sich Sozialarbeiter, Anstaltspsychogen und zuletzt diese voyeuristische Journalistin gestürzt. Schien er doch ein tiefes Geheimnis zu hüten, entweder genialer Lügner oder geborenes Opfer zu sein. Beides weckte den Ehrgeiz aller altruistisch beseelten Resozialisierer. Vermutlich ist dies, neben der tristen Zusammensetzung seiner übrigen Klientel, auch der Grund, weshalb Weller mit ihm gesegelt ist. Das Privileg für den interessanteren Klienten, den anspruchsvolleren Fall. Doch Henry ist nicht käuflich, wird seine innere Distanz nicht aufgeben, sondern den anderen für seine eigenen Zwecke benutzen.
Die mit Abstinenzaufklebern und Flyern örtlicher Sozialberatungsstellen beklebte Bürotür öffnet sich und ein extrem bizepsorientierter, breitwandtätowierter Kerl kommt zusammen mit Weller heraus. Der nickt Henry zu und hält zwei Finger hoch. Zwei Minuten. Henry nickt ebenfalls und Weller geht mit dem anderen hinüber in das Sekretariat, wo eine ältere Frau mit Pudelfrisur am Schreibtisch sitzt.
»Frau Sänger, dieser junge Mann hier startet ab nächster Woche seine Weltkarriere in Wismars Holzindustrie und kann uns deshalb nicht mehr vormittags beehren.« Er schlägt dem Tätowierten freundschaftlich auf die Schulter. Der grinst über das ganze Gesicht, zeigt schadhafte Zähne und wirkt sofort weniger furchterregend. »Seien Sie so gut und geben Sie ihm den nächsten Termin an einem Spätnachmittag.«
Weller verabschiedet sich mit Handschlag von dem anderen, strahlt, als hätte er selbst gerade eine deftige Gehaltserhöhung bekommen. Es kommt viel zu selten vor, dass seine Jungs und Mädels eine Arbeit finden. Aber wie sollen sie zu verantwortlichen Bürgern werden, wenn man ihnen das Bürgerrecht auf Arbeit, wie er es nennt, vorenthält? Wie kann jemand Selbstbestimmung lernen, wenn er nichts zu
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