Sokops Rache
leer.
Warum erzählt Strom mir das? Wieso jetzt? Henry ist verwirrt. Die Pizza wird serviert und sie beginnen zu essen, obwohl ihm der Appetit vergangen ist. Hat Strom Schuldgefühle mir gegenüber? Und stimmt die Geschichte überhaupt? Sie waren nie wirklich befreundet, sind es auch jetzt nicht. Strom hat schon damals sein Mäntelchen nach dem Wind gehängt, war mal mit dem, mal mit jenem solidarisch – ganz wie es für ihn selbst von Vorteil war. Während sie essen, lässt Henry sich mehr über diesen Paetow erzählen, erfährt, dass dieser schon ein paar Mal in der Bützower Haftanstalt eingesessen hat. Zurzeit betreibt er offiziell ein Geschäft für Wassersportartikel hier in Wismar und handelt inoffiziell mit »allem, was Spaß bringt«, wie Strom es formuliert. Henry nutzt Stroms Hang zum elliptischen Erzählen und erfährt so alles, was der andere zu diesem Wikingertyp und dessen damaligen Zorn auf die Sokops weiß.
Er hat in der Tat einen weiteren Verdächtigen.
* * *
Die Aufsicht im ersten Stock nickt Sonja freundlich zu, als sie kurz nach der morgendlichen Öffnung an ihrem gewohnten Tisch vor einem der Fenster zur Ulmenstraße zwischen Literaturwissenschaft und Kunst Platz nimmt. Sie legt den Collegeblock und zwei stadtgeschichtliche Bände vor sich hin, wirft dabei einen Blick hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ragt hinter dem Parkstreifen das vierstöckige Bürogebäude auf, in dem die Bewährungshilfe ihre Räume hat. Jeweils dienstags und donnerstags sind dort Sprechzeiten, die Gruppentherapie für Gewalttäter findet Mittwochnachmittag statt. So viel weiß sie aus dem Gespräch mit dem Bewährungshelfer. Seit dem Besuch bei ihm ist sie Stammgast in der Bibliothek, sitzt stundenlang an diesem Tisch im aufwändig restaurierten historischen Zeughaus, schaut hinaus und ist froh, dass Wellers Sprechzeiten in die Bibliotheksöffnungszeiten fallen. Sie fühlt sich hier drinnen wie in einem Kokon, spürt hinter den dicken Mauern und den stets geschlossenen Fenstern weder die frühsommerliche Hitze noch die Geschäftigkeit der Stadt, sondern kann sich ganz den Gedanken an ihren heimlichen Geliebten hingeben. Sollte er dort drüben auftauchen, wird sie das spüren, dessen ist sie sich völlig sicher. Ihr innerer Seismograph wird sein Erscheinen registrieren, ob sie nun hinschaut oder gerade, um nicht aufzufallen in einem Buch blättert, mit einer der Bibliothekarinnen plaudert oder einen Kaffee aus dem Automaten im Erdgeschoss zieht.
Sie kneift die Augen zusammen. Drüben auf dem Parkplatz hält ein dunkelblauer Wagen. Die Fahrertür öffnet sich. Sonja beißt sich auf die Lippe. Er ist es! Unverkennbar, die silbergrauen Haare, das scharfe Profil. Sie beobachtet gebannt, wie er auf das Bürogebäude zugeht, sich, bevor er im Eingang verschwindet, mit der flachen Hand über die Haare streicht. Allein an dieser charakteristischen Geste würde sie ihn überall wiedererkennen. Sie rafft ihre Sachen zusammen, stellt die Bücher ins Regal – irgendwo in eine Lücke, das ist jetzt egal – und klappert die Panzerglasstufen der frei im Raum aufragenden Treppe hinab zum Ausgang. Es ist so weit! Sie ist aufgeregt wie vor einem Vorstellungsgespräch. Du hast bestimmt mindestens eine halbe Stunde , erinnert sie sich plötzlich an das, was Bewährungshelfer Weller über seine Arbeit berichtet hat. Also läuft sie noch einmal nach oben, betritt die Damentoilette und schraubt vor dem Spiegel die kleine flache Flasche aus ihrem Rucksack auf. Nach zwei Schlucken wird ihr warm, nach dreien fühlt sie sich ruhig genug, Lippenstift und ein wenig Puder aufzutragen. Mit dem Kamm fährt sie durch ihre orangefarbenen Ponyfransen. Sie muss bald wieder zum Nachfärben, am Ansatz kommt das Braun durch. Drei Minuten später sitzt sie in ihrem Auto, acht Fahrzeuge zwischen sich und Henrys Golf.
Natürlich hat er keine Zeit gefunden, sich bei ihr zu melden, musste so vieles erledigen. Wohnung, Auto, vielleicht hat er sogar schon eine Arbeit. Doch das ist unwahrscheinlich. Freie Stellen sind in Mecklenburg Mangelware. Und auf einen entlassenen Mörder – auch wenn er BWL studiert hat – wird kein Betrieb gewartet haben. Sie bedauert, ihm nicht bei der Jobsuche behilflich sein zu können. Die einzigen Beziehungen, über die sie verfügt, bestehen aus ihrem Journalistenonkel in Hamburg. Zum Rest der Familie – ihrer verwitweten Mutter, die vor einigen Jahren zusammen mit ihrem schwedischen Liebhaber
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