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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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bestimmen hat? Weller ist weit davon entfernt, an diesen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu verzweifeln. Doch ist seine Freude über erfreuliche Ausnahmen von der bitteren gesellschaftlichen Regel  Haftentlassene sind und bleiben stigmatisiert  ungebrochen. Mit einem Lächeln wendet er sich seinem anspruchsvollstem Fall zu.
    »Henry.« Er gibt dem Namen einen französischen Klang. Sein Schnauzbart wackelt vor Vergnügen, als er den anderen an den kleinen Tisch in seinem Büro bittet, der zusammen mit den beiden Stühlen die Hälfte des Raumes einnimmt.
    »Dritter Besuch, fristgemäß. Fünfte Woche nach der Entlassung«, konstatiert er ohne einen Blick in die Akte. »Lebensabsicherung läuft?«
    Henry nickt. Er ist als Arbeitssuchender bei der sogenannten Agentur registriert – zu seiner Zeit hieß diese Behörde zur Verwaltung des staatlich verordneten Elends noch ganz lapidar Arbeitsamt – und hat sich pro forma um Arbeitslosenunterstützung gekümmert.
    »Also Straftatbearbeitung.« Weller verschränkt die Arme vor seinem massiven Oberkörper und blickt ernst. »Darum kommen wir nicht herum.«
    Henry blickt auf den Schreibtisch, auf dessen Platte sich die Aktenordner türmen, wie auch im Regal dahinter. Durchschnittlich siebzig Personen hat er zu betreuen, hat Weller ihm erzählt. Er selbst ist also einer von siebzig. Sie werden voraussichtlich einige Zeit miteinander verbringen. Voraussetzung für Henrys vorzeitige Entlassung war die dreijährige Betreuung durch die Bewährungshilfe und eine anschließende fünfjährige Führungsaufsicht, in der aller Wahrscheinlichkeit nach Weller sein Betreuer bleiben wird. Acht Jahre gemeinsamer Gespräche, anfangs vierzehntägig, irgendwann bestimmt seltener. Das sind grob geschätzt mehr als zweihundert Stunden. Will Weller die tatsächlich mit Tatbearbeitung und Wie-geht-es-dir-Blabla füllen?
    »Okay, was willst du wissen?« Henry versucht, wie ein Fernsehquizkandidat zu wirken, locker und doch konzentriert. Wellers erste Frage schlägt ihm vor den Brustkorb wie ein Faustschlag, obwohl er doch vorbereitet gewesen ist.
    »Hast du die Tat begangen?«
    Er atmet ein paar Mal tief, bevor er antwortet.
    »Obwohl es alle glauben – nein.«
    Weller macht einen Strich auf einem Formular und sagt: »Gut, das behandeln wir hier nicht. Wir behandeln nur die Dinge, die stimmen.« Er blättert in der Akte, liest in einem amtlichen Schriftstück. Sein Urteil, erkennt Henry.
    »Dein Vater ist am 31. Dezember 1992 erschossen worden.« Er lässt den Satz im Raum stehen, sieht Henry an, wartet ab.
    »Das ist wahr.« Wie lange hat ihn das Bild in jeder Nacht verfolgt, seine Träume infiziert, zu nicht zu gewinnenden, schier apokalyptischen Wettläufen verzerrt. Der überraschend winzige Körper seines Vaters, dort auf dem Büroboden. Das absurd kleine Loch in der Brust, eher schwarz als rot, aus dem das Leben entwichen war. Die Stirn, die Hände noch warm. Die wirren grauen Haare. Wie immer hatte er sie seit Monaten nicht schneiden lassen; aus Geiz, aus Starrsinnigkeit, aus Nachlässigkeit – Henry kann es nicht sagen, sieht nur seine eigene Hand, diejenige, in der er unbegreiflicherweise bis eben noch die Pistole gehalten hat, wie sie immer wieder über Vaters Wange streicht, das erste Mal, seit er denken kann, sein Gesicht berührt, als könne er damit das Leben zurückholen. Am Ende sieht er nur noch diese grauen Augen, weit geöffnet und doch blicklos, die ohne jeglichen Ausdruck emporstarren.
    Wellers Stimme holt ihn zurück.
    »Lass uns darüber reden, was an jenem Tag passiert ist.«
    * * *

 
    Wismars Alter Hafen zeigt sich von seiner besten Seite. Unter strahlendem, mit Wolkenweiß getupftem Himmelsblau dümpeln die Kutter am Kai; Räucherfisch und Fischbrötchen werden direkt ab Deck verkauft. Die  Wissemara , Nachbau einer uralten Kogge und Wahrzeichen der Stadt, liegt fest vertäut und von Touristen bestaunt, ebenso wie die Traditionssegler und die Ausflugsschiffe. Die Saison hat begonnen.
    Auf der gegenüberliegenden Hafenseite, an den dort in ehemaligen Fischergebäuden untergebrachten Läden und Büros, geht Henry Sokop. Sein Ziel liegt zwei Eingänge neben einer Bar, die tagsüber als Café fungiert. Mehrmals ist er in den letzten Tagen dort entlangspaziert, unschlüssig. Wie alle Läden hier besitzt auch der Wikingerladen, vor dem er jetzt steht, einen Eingang in Richtung Hafenbecken und einen zur Parkplatzseite. Schaufenster gibt es nicht. Die verglaste

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