Sokops Rache
ihm gefehlt hat. Es ist ein unwirkliches Gefühl, als wäre er nach einer viel zu kurzen Beschleunigungsphase soeben über die Ziellinie gefahren. Er strahlt Oldenburg an.
»Ich bin auch außerordentlich froh, Sie getroffen zu haben.«
* * *
Seine Hand knüllt die Brötchentüte zusammen, aus der er seinen gefiederten Besuchern ihr Frühstück auf den Hinterhof gestreut hat. Heute wartet er nicht darauf, dass sie einfliegen, erst von der Mauer aus das Risiko einschätzen im Hof zu landen und dann, einer nach dem anderen, auf dem Pflaster aufsetzen und hastig die Brocken und Krümel aufpicken. Die Zigarette zwischen den Zähnen, rasiert er sich im engen, muffigen Bad, in dem er nichts verändert hat, seit er hier wohnt. Er ist in einer seltsamen Stimmung. Die letzte kleine Ungewissheit, ob der Bauunternehmer tatsächlich der Gesuchte ist, versetzt ihn in nervöse Ungeduld. Alles kann Zufall sein. Der Mercedes, das Parfüm. Und sollte es ein Waschmittel geben, das Fahrenheit ähnlich ist, wäre auch der Wikinger noch im Spiel. Henry fühlt sich, wie ein Rennpferd in der Starterbox empfinden muss, in Erwartung des Schusses, der die Türen aufspringen, all die gesammelten Energiereserven explodieren lässt. Fiebernd, unruhig, konzentriert auf das Ziel, den einzigen Punkt, der wichtig ist.
Er zieht die Haustür hinter sich zu, lädt die Tüte mit dem Altglas, den Altpapierkarton und den Einkaufskorb aus Plastik in den Kofferraum und kommt sich dabei vor wie ein Schauspieler, der den braven Bürger mimt, welcher beflissen Anordnungen der Obrigkeit befolgt, sich selbst und sein Leben krampfhaft in Ordnung hält, bemüht ist, niemals aufzufallen und lebenslang vergebens auf die Belohnung dafür wartet. Er wirft die Heckklappe lauter zu als notwendig.
In der Lübschen Straße wird er auf den grünen Polo aufmerksam. An einer Ampel kommt der direkt hinter ihm zum Stehen. Er erkennt sie sofort. Das leuchtend orangefarbene Haar, die dunklen, förmlich aus dem runden Gesicht hervorstechenden Augen sind unverkennbar. Er beißt die Zähne zusammen, seine Kiefer knacken. Sie schaut unbewegt nach vorn. Hat sie ihn nicht erkannt? Doch dann – die Ampel schaltet auf Gelb – hebt sie die Hand, klimpert mit den Fingern einen affektierten Gruß.
Er gibt Gas, lässt sie schnell hinter sich und weiß doch um die Zwecklosigkeit seines Handelns. Vor der nächsten Kreuzung staut sich der Vormittagsverkehr und wenig später hat der Polo wieder zu ihm aufgeschlossen. Das Gesicht der Fahrerin bleibt unbewegt. Im Kreisverkehr bei Hinter Wendorf biegt er zu den Einkaufsmärkten ab. Sie folgt ihm. Henry wappnet sich innerlich gegen die erneute Begegnung mit dieser menschlichen Klette. Auf dem riesigen Parkplatz lenkt er den Golf ans hintere Ende, dorthin, wo die Wertstoffcontainer stehen. Ein bezeichnender Platz für ihr Rendezvous , vermerkt er in Gedanken – Hohle Verpackung trifft Ausschuss. Doch die Journalistin steigt nicht aus, wartet mit laufendem Motor, als er den Inhalt seines Kofferraums in die Container füllt. Was hat sie vor? Auf keinen Fall wird er sie ansprechen. Er vermeidet Blickkontakt, beobachtet sie aus dem Augenwinkel. Kaum sitzt er wieder am Steuer, da gibt sie Gas. Er hört das Aufheulen des Motors, sieht den Polo im Rückspiegel auf sich zuschießen. Schnell legt er den Gang ein, rollt eben an, da schleudert ihn ein heftiger Ruck gegen das Lenkrad. Ohne zu überlegen beschleunigt er, hofft, dass ihm nicht gerade jetzt ein Wagen auf Parkplatzsuche in die Quere kommt, und schießt zwischen den Reihen der geparkten Fahrzeuge hindurch. Sie folgt ihm, rammt ihn, als er vor einem Fußgänger mit Einkaufswagen bremsen muss, noch einmal an der hinteren Stoßstange. Passanten starren entgeistert. Ein kleiner Junge klatscht vergnügt in die Hände. Sonjas kreischendes Lachen dringt an sein Ohr; er versteht jedoch die Sätze nicht, die sie ihm zuschreit. In unverantwortlichem Tempo rast er zwischen den abgestellten Autos hindurch, den Polo immer dicht auf seinen Fersen. Eine Sekunde lang erwägt er, anzuhalten, hinauszuspringen und sie aus ihrem Wagen zu ziehen, bevor sie davonfahren kann. Aber nein, das will sie doch, ihn zu irgendeinem Kontakt zwingen. Selbst wenn er sie anschreit, ohrfeigt, ist ihr das vermutlich lieber, als nicht von ihm beachtet zu werden.
Er biegt vom Parkplatz hinunter auf die Straße und zieht auf der Rückfahrt in die Stadt alle Register seiner Fahrkünste. Nach fünf schweißtreibenden
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