Sokops Rache
nimmt sich eine Zigarette und schnickst die Packung über den niedrigen Couchtisch. Henry weiß die Großzügigkeit des anderen zu schätzen, mutmaßt gleichzeitig, dass sie irgendeinen noch zu beziffernden Preis haben wird. Wortlos rauchen die beiden. Ihr Zusammenhocken nach Ladenschluss, die müßige, zwanglose Zweisamkeit ist zu einer Gewohnheit geworden. Das staubige, als Lager und Aufenthaltsraum dienende Obergeschoss, das Paetow seine Absteige nennt, ist ein fester Punkt auf Henrys abendlichen Spaziergängen – wenn er nicht sowieso nach Beendigung einer Kurierfahrt hierhin zurückkehrt. Der unübersichtliche, mit Kartons in allen Größen zugestellte Raum, den Paetow gelegentlich als Nachtlager nutzt – wenn er zu viel getrunken hat, um mit seinem Pickup nach Hause zu fahren oder wenn er eine Braut aufgerissen hat, wie er das ausdrückt – ist Henry inzwischen vertrauter als seine eigene, Verlassenheit atmende Wohnung.
»Was sagt deine Frau dazu, wenn du nicht nach Hause kommst?«
»Die ist froh, wenn sie mal ihre Ruhe hat.« Viel weiß Henry nicht über diese Ehe, doch sie scheint auch nach fast 20 Jahren noch von Liebe und Respekt geprägt zu sein. Seit Sohn und Tochter aus dem Haus sind, gehen die Eltern offenbar stärker eigene Wege. Es scheint, als habe auch Paetows Frau durchaus etwas mit anderen Männern laufen.
»Wir sind beide erwachsen und freie Menschen«, lautet der lapidare Kommentar des Wikingers zu seinen Affären, die er nie verhehlt.
Hier oben in der Absteige spürt Henry besonders stark, wie sehr er nach einem Kontakt giert, der nicht auf Berechnung, Hierarchie oder Macht fußt. Nach etwas, das jeder andere Freundschaft nennen würde, für das es jedoch in seinem Vokabular keine Entsprechung gibt. Etwas, das ihm fremd und doch so verführerisch nah erscheint, hier in diesem verwahrlosten Refugium des Wikingers. Du solltest dir einen Hund anschaffen , sagt er sich. Der liebt dich immer. Er steht auf, steigt über den fast leeren Bierkasten und bemerkt, dass er für heute genug getrunken hat. Die Toilette teilt sich mit einer grau verkalkten Duschkabine den winzigen Nebenraum. Auf der Ablage unter dem halbblinden Spiegel steht eine große Schachtel Kondome. Er steckt sich zwei davon in die Hosentasche, fixiert dabei das schiefe Grinsen seines Spiegelbilds und denkt an Nicole Oldenburg. Bisher hat er fest an die Bedeutungslosigkeit von Gefühlen geglaubt, doch ihr, dem Wikinger und ein wenig sogar seinem Bewährungshelfer ist es gelungen, in den Hochsicherheitstrakt seines Selbsts vorzudringen. Ihm ist, als würden seine Emotionen, die er gelernt hat zu negieren, nun unkontrollierbar aus seinem Inneren herausbrechen, an die Oberfläche seines Bewusstseins steigen und dort – wild blinkenden Bojen gleich – ununterdrückbar und für jeden sichtbar leuchten. Er weiß, wie riskant das für ihn ist.
Während er seine Hände unter den kalten Strahl hält, lauscht er dem Plätschern des Wassers. Er muss diese gefährliche Sympathie, die er Paetow gegenüber spürt, in den Griff bekommen. Ihm ist nicht klar, was er sich mehr wünscht: Dass der Wikinger der Mörder seines Vaters sein oder dass er nichts mit dessen Tod zu tun haben möge. In jedem Fall drängt die Zeit, es herauszufinden: Denn mit jeder dieser mit Sicherheit illegalen Touren, die er für den anderen macht, setzt er seine Bewährung aufs Spiel. Er muss bald eine Möglichkeit finden, Schuld oder Unschuld Paetows zu beweisen. Im selben Moment, als eine Idee in ihm zu keimen beginnt, bollert eine Faust gegen die Sperrholztür.
»Brandt, was treibst du da drinnen? Bist du eingeschlafen?« Henry dreht das Wasser ab und weiß mit einem Mal, was zu tun ist.
»Reg dich ab. Sag, hast du was zum Frischmachen hier? Ein Deo oder Aftershave?« Er schiebt die Tür des Schränkchens, das unter dem Waschbecken steht, auf. Scheuermilch, ein verschrumpelter Lappen, ein Beutel Einwegrasierer und ein kleiner Stapel Handtücher.
»Hast du was Besonderes vor?« Paetow lehnt am Türrahmen, als Henry heraustritt und strömt Provokation aus.
»Möglich.«
Die Gletscheraugen des Wikingers brennen heiße Flecken auf Henrys Wangen.
»Ich vertrage keine Duftwässerchen, überhaupt keinen Kosmetikkram. Seit meiner Jugend habe ich Neurodermitis, da geht nur Kernseife. Die benutze ich sogar zum Rasieren. Wenn ich mich mal rasiere.« Er grinst und Henry starrt mit klopfendem Herzen auf die Lücke, die sein fehlender Eckzahn im Oberkiefer
Weitere Kostenlose Bücher