Sokops Rache
brechen zu lassen, sondern die Zeit dort durchzustehen – wie auch immer. Diese Ohnmacht dem Urteil gegenüber – ich habe lange dagegen angekämpft. Irgendwann habe ich damit aufgehört, was nicht heißt, dass ich nicht rehabilitiert werden will. Natürlich will ich meine Unbescholtenheit wieder haben, das ist noch immer mein Ziel. Doch ich sehe selbst, dass dies niemanden interessiert. Für die Welt bin ich der Vatermörder, überführt, verurteilt, abgelegt.«
»Das klingt verbittert. Du solltest dich vielleicht ein wenig mehr öffnen, Nähe zulassen, Kontakte aufbauen.«
»Manchmal habe ich mir, um es dort drinnen auszuhalten, vorgestellt, ich wäre ein Ethnologe auf Exkursion, habe die anderen Gefangenen und das Anstaltspersonal beobachtet, als wollte ich ihre Lebensweise, ihre Gemeinschaftsregeln und Rituale erforschen. Jetzt wo ich frei bin …«, er hält inne, überlegt, »jetzt wo ich kein Gefangener mehr bin, sind mir die Menschen nur noch als Menschheit interessant. Weller, ich war 26, als ich verurteilt wurde, hatte damals, außer ein paar Bettgeschichten und Saufkumpanen, keine stabilen Sozialkontakte, wie ihr das nennt. Als Gefangener habe ich es mir abtrainiert zu fühlen, zu vertrauen, loszulassen. Es gelingt mir nicht, mich in ein menschliches Wesen zurückzuverwandeln. Vielleicht ist es eine ganz passable Nachahmung, die ich hier aufführe. Aber eigentlich laufe ich wie ein Untoter durch diese Stadt, in der ich ein paar Jahre lang gelebt habe, sehe manchmal Leute, die sich an mich erinnern müssten, dies aber nicht tun. Manchmal zweifle ich daran, jemals hier gewesen zu sein, jemals gelebt zu haben. Es ist, als bliebe Freiheit Zukunft für mich.«
Es ist ihm völlig egal, wie geschraubt dies geklungen hat. Er meint es ernst und ist sich gleichzeitig bewusst, dass Weller auch nur einer von denen ist, die ihn für schuldig, für einen notorischen Tatleugner halten. Doch alles, was zählt, ist, dass er den Verursacher seines Unglücks aufspüren und töten wird. Das ist sein Schicksal. Dazu braucht er niemanden. Den Gedanken an Nicole schiebt er rigoros beiseite.
* * *
Mir war es schon klar, als deine Silberaugen das erste Mal auf mir ruhten. Dort in diesem spartanischen Raum in Waldeck, der für mich das Paradies war, weil ich dich dort treffen durfte, du mir für diese kostbaren Stunden geschenkt wurdest.
Wir sind füreinander bestimmt, Liebster.
Genauso wie ich bist auch du dagegen machtlos, gestehe es dir ein. Weshalb sonst hättest du mir so vieles von Dir offenbart? Wehre dich nicht dagegen, habe Vertrauen. In mich, in deine Gefühle. Du hast doch inzwischen gemerkt, dass es mir völlig gleichgültig ist, wofür du verurteilt wurdest.
Für mich bist du unschuldig.
Neu anfangen waren deine Worte. Das will ich auch. Mit dir! Ich bin bereit für unsere Liebe. Lass diese blonde Kuh ziehen. Sie wird dich nur unglücklich machen, das lasse ich nicht zu. Wenn du dich weiter mit ihr triffst, sage ich ihr, wer du wirklich bist.
In Liebe
Sonja
P. S.: Ruf mich an.
Das wird er tun. Henry knüllt den Brief, den er hinter dem Scheibenwischer seines Wagens gefunden hat, in seiner Faust zusammen.
* * *
»Ich möchte mit dir zusammen dorthin gehen. Dorthin und überall hin.« Nicole zieht ihre Augenbrauen zusammen. »Was soll die Heimlichtuerei?«
»Ich habe eben keine Lust auf Wismars Kulturschickeria und das Getuschel, mit wem die Oldenburgsche Juniorchefin neuerdings liiert ist.«
»Die Galerie Kunststoff ist nicht gerade Schickeria. Mehr die junge Off-Kunstszene der Stadt. Ich gehe da ganz gerne hin. Es ist entspannter als in der Galerie Hinter dem Rathaus , wo es wirklich ein wenig tanten- und onkelhaft zugeht.«
Henry könnte sie darauf hinweisen, dass sie selbst zum Förderverein der Tanten- und Onkelgalerie gehört, doch er will einer weiteren Diskussion aus dem Weg gehen. Er küsst sie von hinten auf die Schulter, seine Arme sind um ihren Oberkörper geschlungen. Er begegnet im Spiegel auf dem dunklen Flur seiner Wohnung ihrem Blick. Sie sind nackt, haben sich das erste Mal bei ihm zu Hause, auf dem Sofa aus dem Möbellager geliebt. Seine Angst, sie könne es hier zu primitiv und ärmlich finden, hat sie schnell zerstreut. »Ehrlich, ich hab’s mir schlimmer vorgestellt«, hat sie gelacht. »Apfelsinenkisten oder so etwas.«
»Warte, bis du das Bad siehst«, hat er gemurmelt und ihr den BH aufgehakt. Nun sind sie entspannt, ihre Körper glühen und sie haben auf dem Weg
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