Sokops Rache
was ist mit Oldenburg? Es muss den Richtigen treffen. In einem Winkel seines Hirns fragt etwas, ob er das überhaupt noch vorhat – Schluss zu machen. Er verdrängt den Gedanken. Hinter der schweren, dunkelgrün lackierten Haustür ertönt ein melodiöser Gong. Er streicht sich über die Haare, rückt die Brille zurecht und setzt seinen freundlich-verbindlichen Verkäuferblick auf – bestens bewährt bei Anstaltspsychologen, Arbeitsagentursachbearbeitern und anderen Verführbaren. Schritte klappern, dann öffnet sich das kleine quadratische Milchglasfenster direkt vor seinem Gesicht.
»Henry.« Nicoles Augen strahlen ihn an.
»Nic.« Er probiert diesen Kosenamen zum ersten Mal, sieht sie stutzen. »Willst du mich nicht hereinlassen?« Er hört ihr perlendes Lachen, das Fenster geht zu und die Tür öffnet sich. Eine zögernde Sekunde, ob die gestrige Nähe sich umstandslos wieder herstellen lässt, dann streckt er die Arme aus, tritt einen Schritt auf sie zu und sie erwidert seinen Kuss. Heute riecht sie anders, hat also mehr als ein Lieblingsparfüm. Schön, das erleichtert ihm die Auswahl seines ersten Geschenks für sie. Er lässt seine Zungenspitze ihren Gaumen kitzeln, behält seine Hände züchtig auf ihrem Rücken, streicht ihr über die Schulterblätter. Er wird sie langsam weich kochen. Heute die gemeinsame Segeltour, die eine oder andere Fummelei, vielleicht sogar irgendetwas unter Deck. Er wird sehen. Doch bevor ihr Vater ihm sein Boot inklusive Tochter für den Nachmittag überlässt, will er Henry beschnuppern, wie Nicole es vorhin am Telefon ausgedrückt hat.
Sie durchqueren die quadratische Diele, die trotz der vielen, meist offen stehenden Türen düster wirkt. Henry goutiert das Spiel ihrer köstlich gerundeten Hinterbacken unter dem weißen Hosenstoff. Entweder hat sie gar nichts darunter oder einen dieser winzigen Tangas. Er wird das herausfinden. Sie klopft an eine Tür, öffnet sie im selben Moment.
»Papa, Henry ist hier.«
Über ihre Schulter hinweg späht er in ein mit dunklem Holz getäfeltes und mit gediegenen alten Möbeln ausgestattetes Arbeitszimmer. Oldenburg thront hinter dem intarsiengeschmückten Schreibtisch, bedeutet ihm, Platz zu nehmen. Nicole lässt sie allein, will sich um den Kaffee kümmern. Henry setzt sich in einen der beiden wuchtigen Sessel und lässt die Atmosphäre des Raumes auf sich wirken, während Oldenburg auf der Tastatur seines Rechners tippt. Neben den vermutlich sogar echten Antiquitäten gibt es einen Flachbildschirm, zwei Telefone, Kristallkaraffengeglitzer auf dem Barwagen, ein Großformat in Öl – eine belanglose Sommerlandschaft, die Henry nichts sagt. Lebt so ein Mörder?
Oldenburg kommt hinter seinem Tisch hervor, tritt ihm mit ausgestreckter Pranke entgegen. »Unser Retter!« In dem Moment, in dem er die Hand seines Gastes ergreift und seine Schulter tätschelt, stürzt dieser sechzehn Jahre, vier Monate und dreißig Tage rückwärts. Zurück in jenen Silvestertag.
Henry tritt aus dem fisseligen Schneegestöber in den überhitzten Bürocontainer. Irgendetwas stimmt nicht. Sein Blick huscht zwischen den beiden Schreibtischen hin und her, bis er sich an den Schuhen seines Vaters festhakt, die hinter der Tischecke hervorragen. Angst schnürt ihm die Luft ab. Er zwingt sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, nähert sich wie in Zeitlupe der Stelle, von der er instinktiv weiß, dass das, was er dort finden wird, eine Katastrophe ist. Dann sieht er es. Während sein Hirn versucht, das Bild – die starren Augen, das kleine dunkle Loch in der Brust, die eigenartig verdrehten Beine – zu verstehen, riecht er, bevor er das Bewusstsein verliert, etwas Fremdartiges.
Jahre später trifft ihn dieser Sinneseindruck zum zweiten Mal. Als sein Augenlicht dramatisch nachlässt, bekommt er bewachten Ausgang zu einem niedergelassenen Spezialisten. Während der Tests kostet es ihn Mühe, ruhig zu wirken, so tief erschüttert ihn der Geruch, den der Augenarzt verströmt. Schließlich fragt er und erfährt, was er damals wahrgenommen hat, als der Mörder ihn hinterrücks niederschlug: Diese unverwechselbare, stechende Mischung aus Mandarine, Zeder und Patschuli.
Fahrenheit. Oldenburgs Parfüm. Henry schlägt im Heute auf, schnappt nach Luft, beherrscht mühsam den Impuls, sein Gegenüber gleich hier, in dessen Arbeitszimmer … Er versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, murmelt irgendetwas Belangloses als Begrüßung. Da ist sie – die Gewissheit, die
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