Sokops Rache
Minuten hat er sie abgehängt. Auf dem Parkplatz eines anderen Einkaufsmarktes hält er an, dreht sich eine Zigarette und merkt, wie seine Hände zittern. Er hat die Unberechenbarkeit dieser Frau eklatant unterschätzt.
* * *
»Du bist mir also untreu geworden.« Wellers Schnauzbart wackelt. Henry versteht nicht, worauf er hinaus will.
»Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du am kommenden Wochenende mit mir segeln willst. Aber dann sehe ich dich am letzten Samstag auf der Niobe , diesem Nobelkahn. Mit dem kann meine kleine Schaluppe natürlich nicht mithalten.«
Henry versucht, nicht überrascht auszusehen. »Ich habe den Eignern nur aus einer Notlage geholfen, daraufhin haben sie mich auf ihr Boot eingeladen.« Er ärgert sich über den Rechtfertigungstonfall seiner Worte und über die Tatsache, dass man in dieser Stadt anscheinend keinen Schritt machen kann, der nicht von anderen bemerkt wird. Erst diese Irre, jetzt sein Bewährungshelfer. »Mehr nicht.«
»Mehr nicht. Na gut.« Weller scheint noch etwas bemerken zu wollen, schweigt jedoch.
»Ich komme gerne mit dir zum Segeln. Doch am Wochenende habe ich eine Verabredung.« Er sieht Weller grinsen und setzt hinzu: »Vielleicht ergibt sich ein Job daraus.« In Sekundenschnelle denkt er sich eine Geschichte aus – flüchtiger Bekannter, Hausbau, Hilfe beim Dachdecken – um Wellers Gedanken von den Oldenburgs abzubringen. Sie kommen zurück ins Fahrwasser Bewährungshelfer-Klient.
»Und, was treibst du so in deiner üppig bemessenen Freizeit?«
Henry weiß, dass es der andere, trotz seiner flapsigen Ausdrucksweise, ernst meint. Er antwortet wahrheitsgemäß – unter Auslassung der Personen, die ihn selbst am meisten beschäftigen. »Ich gehe viel spazieren, schaue mir die Stadt an. Ich lese mich durch die Stadtbibliothek. Ab und zu gehe ich auf ein Bier in den Schlauch.« Er überlegt, ob Stroms Existenz etwas ist, das er dem anderen lieber verheimlichen sollte. »Mit einem alten Kumpel von damals.«
»Also: viel Langeweile, keine anspruchsvolle Beschäftigung. Du kannst mir nicht erzählen, dass dich das zufrieden stimmt.« Weller blickt ihn ernst an. »Wie geht es dir wirklich?«
Henry schluckt. Da ist er wieder. Dieser heimliche Wunsch, dem anderen alles zu offenbaren, Trost und Verständnis bei ihm zu finden. Schon einmal, auf Wellers Boot, hat ihn dieses Bedürfnis unvorsichtig gemacht.
Damals hat er Weller von seinem Vater erzählt, dessen Versteinerung, seinem eigenen Wunsch nach Nähe. Und Weller hat nur einen Satz gesagt: »Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?« Da haben ihn Tränen überschwemmt, waren minutenlang seine Wangen hinabgeronnen, ohne Unterlass, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. Also hat er weiter die Pinne umklammert, auf den Horizont gestarrt und einfach nur genickt. Weller hat ihn in Ruhe gelassen; später haben sie über das Segeln geplaudert und zum Abschied hat Weller gemeint: »Du musst das alles nicht mit dir allein abmachen. Denk mal drüber nach, ob nicht eine Psychotherapie etwas für dich wäre. Ich habe Kontakt zu einem sehr guten Psychologen in Schwerin, der nicht sofort in Ohnmacht fällt, wenn er etwas von einem Mord hört. Dorthin kann ich dich empfehlen.«
Henry ist nicht wieder darauf zurückgekommen.
»Wie es mir geht? Es geht mir wie jemandem, der fünfzehn Jahre lang aus der Zeit gefallen ist.« Henry bemerkt den trotzigen Tonfall seiner Worte, korrigiert ihn ins Selbstironische. »Ich lerne, was man alles mit einem Handy anfangen kann – außer zu telefonieren. Ich versuche mir einzuprägen, wie die Centmünzen, wie die Euroscheine aussehen – nach all den bargeldlosen Jahren. Und ich lerne segeln.« Er grinst seinen Bewährungshelfer an. »Wenn du mich weiter mitnimmst. Ich weiß das wirklich zu schätzen, Weller.« Um einen letzten Rest Distanz zu wahren, vermeidet er es, den Vornamen seines Bewährungshelfers zu benutzen.
»Ich habe neulich etwas bei Mark Twain gelesen, das mich sofort an dich hat denken lassen.« Weller sieht ihn aufmerksam an und zitiert: »Vergangenheit ist, wenn’s nicht mehr wehtut.« Er lässt den Satz im Raum hängen und Henry fragt sich, was zum Teufel er jetzt antworten soll. So eine Blöße wie neulich auf dem Boot will er sich nicht geben.
»Alles, was mich traurig macht, liegt in der Vergangenheit. Das ist ein Gefühl, das konnte ich im Knast und kann es auch jetzt nicht gebrauchen. Ich habe mir in den ersten Wochen meiner Haft vorgenommen, mich nicht
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