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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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Zigarettenautomaten. Er erinnert sich noch gut daran, wie sich damals in den achtziger Jahren in Westdeutschland eine Protestwelle gegen die staatlich verordnete Volkszählung in der Bevölkerung erhoben hat. Die Eltern eines Schulfreundes waren sehr aktiv gewesen, hatten eine Bürgerinitiative gegründet. Soll es nicht demnächst wieder eine Volkszählung geben? Er hat so etwas gelesen. Gibt es heute eigentlich noch Bürgerinitiativen? Was ist eigentlich aus der Bürgerbewegung hier in Ostdeutschland geworden? Sind inzwischen alle satt und ruhig, sehen wie die Westdeutschen inzwischen ihren Lebenssinn vordringlich im Konsumieren? Er sinnt darüber nach, ob ihm in der Zeit, in der er nun hier in der Stadt ist, irgend eine politische Betätigung der Bürger aufgefallen ist – und stößt beinahe mit einer Gestalt zusammen, die kurz vor der Einmündung des  Krönkenhagen  plötzlich aus den Nebelschleiern wächst. Er will dem anderen ausweichen, nimmt schon die Zigarette für eine gemurmelte Entschuldigung aus dem Mund, geht davon aus, dass sein Gegenüber ebenfalls ausweichen wird. Doch der Mann – er erkennt nun, dass es sich um einen Mann um die Fünfzig, mit schulterlangem, strähnigem Grauhaar unter einer blauen Wollmütze handelt – der Mann bleibt stehen, wo er ist, ja, schiebt sich noch ein wenig näher an ihn heran. Verblüfft macht Henry einen Schritt zurück, versucht, den Ausdruck auf dem kantigen Gesicht dicht vor ihm zu deuten. Die gebleckten Zähne, das leicht meckernde Lachen, irgendetwas nicht Greifbares kommen ihm an dem anderen bekannt vor. In der Ferne ertönt das lang gezogene Tuten eines Nebelhorns.
    »Na, das ist doch …« Eine leicht raue Stimme mit einschmeichelndem Tonfall. »Henry. Henry Sokop.«
    Er zuckt zusammen. Blitzartig geht er die Schubladen seines Personengedächtnisses durch. Woher kennt ihn der Mann? Wismarer Zeit, Haft, gar Berlin oder Hamburg? Er kommt zu keinem Ergebnis. Sie stehen so dicht voreinander, als wären sie Vertraute. Er riecht den Alkoholatem des anderen, sieht dessen unmodern lange, von grauen Fäden durchwirkte Koteletten, die hellen Bartstoppeln am Kinn dicht vor sich. Viel zu dicht. Da spürt er den Griff am Arm.
    »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Es ist so lange her. Lass dich anschauen.« Er zieht Henry unter die nächste Straßenlaterne. Der folgt mit einer Art Willenlosigkeit, die ihn selbst erschüttert.
    »Kennen wir uns?«
    »Hast dich gut gehalten«, beendet der andere seine Musterung. »Meine Haare sind schließlich auch längst grau.«
    Was will der Kerl, wer ist das bloß?  Henry tritt die Zigarette aus, will sich mit einem knappen Gruß entfernen, doch irgendetwas hält ihn fest, so etwas wie eine Vorahnung, das sichere Gefühl, etwas Wichtiges, ja, unter Umständen Lebenswichtiges zu verpassen, wenn er den Mann hier stehen lässt.
    »Seit wann bist du wieder hier?«, ignoriert dieser weiterhin Henrys Frage.
    Die Gedanken rotieren. Kann der andere ihn aufgrund der Fotos, die damals während des Prozesses veröffentlicht wurden, erkannt haben? Unwahrscheinlich, nach so langer Zeit. Kürzlich hat er, in einem sogenannten Internetcafé, nach Pressemeldungen von damals gesucht. Die wenigen Fotos, auf denen er sich nicht irgendetwas schützend vor das Gesicht gehalten hat, waren unscharfe Schnappschüsse von einem langhaarigen weichgesichtigen Jugendlichen ohne besondere Kennzeichen, die vermutlich ehemalige Mitschüler an die Journalisten verhökert hatten. So sieht er nicht mehr aus.
    Der andere wirkt nicht betrunken, eher auf irgendeine andere Art neben sich stehend, fast so, wie er sich einen Hypnotisierten vorstellt. Drogen? Dafür ist der Kerl zu alt und Wismar zu provinziell. Wieso nur kennt er seinen Namen?
    »Ich muss weiter.« Er macht einen halben Schritt, zögert. Der andere scheint seine Worte nicht gehört zu haben, verharrt regungslos vor ihm. Da erklingen vom Markt her Stimmen, durch den Nebel seltsam verzerrt.
    »Wer sind Sie? Woher kennen Sie mich?« Henry stößt die Worte schnell hervor, will nicht, dass die sich nähernden Passanten ihn mit diesem Mann zusammen sehen. Sein Gegenüber rückt sich mit der flachen Hand die Mütze zurecht, schaut ihn schweigend an. Er meint, den Ansatz eines Lächelns zu erkennen. Ärger steigt in ihm auf. Der andere macht eine seltsam schlenkernde Geste mit der einen Hand, legt den Zeigefinger der andern an seinen Mund. Schritte nähern sich. Henry beschleicht ein mulmiges Gefühl. Ist dies

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