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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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völlig gleichgültig sein. »Und du bist Stine, nicht wahr?«
    Eine sehr große Frau, der ein langer schwarzer Indianerzopf über den Rücken fällt, kommt aus der Galerie und setzt sich neben ihn, nickt ihm zu und zündet sich eine Zigarette an.
    »Man kann ja froh sein, wenn man überhaupt noch irgendwo rauchen darf.« Sie grinst ihn schief an. »Staatsterror erster Güte, diese Rauchverbote.« Sie deutet auf sein Tabakpäckchen. »Sie scheinen ja auch nicht gerade ein Gelegenheitsraucher zu sein.« Sie wechseln ein paar scherzhafte Bemerkungen über die Macht des Staates, die Ohnmacht des Volkes und die diesbezügliche geschichtliche Abnormität des ostdeutschen Herbstes 1989. Henry entspannt sich, schwingt sich auf ihr halb ernstes, halb ironisches Niveau ein. Nebenbei schaut er ab und zu, ob er im Inneren der Galerie Nicole entdeckt – und fährt zusammen, als er eine andere bekannte Gestalt dort drinnen erkennt.
    Weller! Sein Herzschlag stolpert. Er blickt sich rasch in dem schmalen Hinterhof um. Kein zweiter Ausgang! Die Gelassenheit, die sich, seit er hier draußen sitzt, in ihm ausgebreitet hat, schmilzt dahin. Murmelnd verabschiedet er sich von der Zopfdame, die ihm gerade von ihrer bildhauerischen Arbeit erzählt – irgendetwas mit Motorsägen und Skulpturen, die halb Mensch, halb Maschine sind. Er flieht in den Galerieraum – und läuft beinahe direkt in seinen Bewährungshelfer hinein, der auf dem Weg nach draußen ist. Hinter ihm sieht er Nicole mit der Galeristin am Tresen lehnen.
    Es ist ein Moment, in dem die Erdrotation zum Stillstand zu kommen scheint. Henry presst die Lippen aufeinander. Der Augenblick dehnt sich in die Unendlichkeit.
    »Henry, gerade wollten wir uns zu dir setzen.« Die Galeristin späht an Weller vorbei, dessen Gesichtsaudruck neutral bleibt, obwohl er und Henry sich direkt gegenüber stehen. Endlich fällt Henry ein, was sein Bewährungshelfer ihm versprochen hat:  Wenn du nicht grüßt, werde ich dich auch nicht grüßen.  Er passiert Weller und stößt den angehaltenen Atem aus, als er die beiden Frauen erreicht.
    »Lass uns gehen, Nic. Mir ist da gerade etwas eingefallen, das ich dir gern zeigen möchte.« Er zaubert sein charmantestes Lächeln auf sein Gesicht, fasst Nicole zärtlich an den Nacken, wendet sich zur Galeristin und senkt seine Stimme. »Du verstehst sicherlich – wir sind frisch verliebt.«
    * * *
    »Du weißt, wie ich arbeite. Ich versuche, ihn so wie alle meine Klienten – unvoreingenommen – zu sehen, ganz so, als würde ich seine Akte nicht kennen.« Er hat seiner Frau nicht gesagt, dass sie gestern in der Galerie neben Henry gesessen hat. Trotzdem ist es ihm ein Bedürfnis, in ihrer Gegenwart laut über seinen anspruchsvollsten Klienten nachzudenken.
    »Unvoreingenommen betrachtet ist er ein erwachsener Mann, der alles verloren hat, was er jemals besessen hat. Familie, Freunde, einen Job, Chancen, so etwas wie Heimat. Er kommt zurück in diese Stadt, in der er nur wenige Jahre seines Lebens verbracht, weder Verwandte noch Freunde hat, auf der Suche nach … ja, wonach eigentlich? Natürlich kann er mit seinem BWL-Studium nicht das Geringste anfangen – bei seiner Vorstrafe. Und auch sonst wird er die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Land ausreichend verfolgt haben, um zu wissen, wie groß die Arbeitslosigkeit gerade in Mecklenburg ist. Ich würde sogar sagen, er hätte an beinahe jedem anderen Ort der Republik mehr Chancen, einen Job zu bekommen.
    Also will er gar nicht arbeiten? War das Studium nur intellektueller Zeitvertreib, um die Haft auszuhalten? Früher hat er Autos verkauft, war damit vermutlich chronisch unterfordert, aber wenigstens seinem Vater nahe. Er hat mir einmal gesagt, dass Autos das Einzige sind, von dem er Ahnung, mit dem er genügend Erfahrung hat. Nur, was macht er daraus? Gar nichts. Dabei hat er einen Kumpel aus einer Autowerkstatt wieder getroffen, der ihm doch vielleicht einen Job verschaffen könnte. Weißt du, ich habe das sehr selten, dieses Gefühl, das über einfache Einfühlung, nenn es ruhig Mitleid, mit den Klienten hinausgeht. Bei H. ist es so.« Als Zugeständnis an die ihm auferlegte professionelle Schweigepflicht nennt er ihr gegenüber keine Namen. »Es macht mich traurig, wenn er traurig ist. Ich mache mir Gedanken, wenn er nachdenklich ist. Und wenn er sich freut, so wie auf dem Boot, wenn er sich endlich ein wenig entspannt, zugänglich wird, dann freue ich mich, als hätte ich ihm auf einen

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