Sokops Rache
Schlag Arbeit, Freundin und Familie besorgen können. Er ist sehr intuitiv, erscheint mir sehr nah, jedoch mit einer zwiespältigen, gleichgültigen Präsenz, die mich reizt. Er verbirgt irgendetwas, das spüre ich. Es ist normal, dass die Jungs und Mädels mir nicht ihr ganzes Herz ausschütten. Schließlich bin ich derjenige, der sie wieder hinter Gitter bringen kann. Doch bei H. geht es nicht um kleine, beim Arbeitsamt nicht gemeldete Nebeneinkünfte, um Eierdiebereien oder Drogenrückfälle. Ihn beschäftigt etwas, … ich würde beinahe sagen, Existenzielles.«
»Huch, wie pathetisch. Kratzt H. nicht vielleicht nur ein wenig an deiner Eitelkeit, mein Lieber? Der große Weller, der ansonsten jeden Knacki knackt. Nur dieser eine widersteht seinem Charme, nein entschuldige, seinem Charisma.« Ellen lächelt ihn an und wirft den öligen Lappen, mit dem sie das Blatt der Kettensäge gesäubert hat, zu dem Sammelsurium aus Stemmeisen, Beiteln, Hämmern, Kanistern, Dosen auf der mit Holzspänen übersäten Werkbank.
Er liebt es, ihr bei der Arbeit zuzuschauen. Es fasziniert und entspannt ihn zu sehen, wie sie mit den Werkzeugen hantiert und der kreative Funke aus ihren Händen auf das Material übergeht, sie ihrer Gedankenwelt mit schwerem Gerät Gestalt und Form verleiht. Oft hockt er stundenlang in ihrer Werkstatt – froh darüber, dass sie ihn als Zaungast toleriert, ihm sogar den alten Ohrensessel neben den Ofen gerückt hat. Nur sprechen darf er nicht, besser: erst dann, wenn sie mit der Arbeit fertig ist und aufräumt.
»Du hast – wie fast immer – Recht.« Er klopft auf den Sessel und seine Frau lümmelt sich in ihrem roten fleckigen Overall quer über die Armlehne und seine Oberschenkel und krault ihn am Kinn.
»Wenn du endlich diese alberne Kotzerei aufgeben würdest, müsste ich nicht mit Mördern segeln gehen.« Seit er sie vor fünf Jahren bei einer Ausstellungseröffnung kennen und lieben gelernt hat, teilen sie ihr Leben und so ziemlich alle Leidenschaften – bis auf den Wassersport. Sie wird schon beim kleinsten Wellengang seekrank. Er beugt sich vor, zieht am Zipper ihres Overalls und küsst sie auf das mit Holzstaub bepuderte Schlüsselbein. Sie hebt sein Kinn mit den Fingerspitzen an und blickt ihn streng an.
»Lüg nicht, du würdest trotzdem mit diesem H. und dem einen oder anderen, bei dem es dir lohnenswert erscheint, aufs Wasser gehen. Der Spiegel des Bewusstseins …«, deklamiert sie, »… das Meer. Ich kenne dich doch, du alter Fuchs.« Sie zieht ihn sanft an seinem Bart. »Was glaubst du denn, was ihn beschäftigt? Schuldgefühle? Sagtest du nicht, er wäre Tatleugner?«
Es amüsiert ihn, wie geläufig ihr, der Künstlerin, sein Fachjargon über die Lippen geht.
»Ich glaube, er hat sich in etwas verrannt. Aus welchem Grund auch immer er seinen Vater getötet hat – er hat sich selbst damit maximal geschadet. Es kann nur eine Tat im Affekt gewesen sein. Ich glaube ihm wirklich, dass er den Vater zeitlebens schmerzlich vermisst hat; ihn dann zu töten, nachdem endlich eine Annäherung geschehen war, kann nicht seine Absicht, kann kein Vorsatz gewesen sein. Eher so etwas wie eine sehr eigenwillige Pointe des Schicksals, unter der er noch heute leidet.« Weller streicht Ellen eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem tiefbraunen, fast schwarzen Zopf gelöst hat, der ihren Rücken hinabbaumelt. Sie küsst beiläufig seine Hand, setzt ihre Gedanken fort.
»Und wenn er es tatsächlich nicht war? Welche psychischen Deformationen muss das erzeugt haben? Fünfzehn Jahre unschuldig hinter Gittern, niemand, der einem und vor allem, der an einen glaubt. Dazu der Vaterverlust.« Sie zieht wie fröstelnd die Schultern hoch. »Was für einen starken Charakter erfordert es, das alles auszuhalten. Und jetzt der Freiheitsschock! Mensch, der Mann kann einem leidtun.«
Weller weiß, dass sie, wenn nicht aus Prinzip, so doch mit Vergnügen die Gegenposition zu ihm einnimmt. Und ihn damit manches Mal auf interessante neue Ideen bringt. Ja, für einen Affekttäter ist Henry eigentlich zu besonnen. Aber er kann sich diese Ruhe, dieses Ungerührtsein durchaus erst während der Haft antrainiert haben. »Du vergisst, dass er vom Gericht für schuldig befunden worden ist.«
»Na und? Erzähl mit nicht, dass du an die Unfehlbarkeit der deutschen Gerichte glaubst. Sag mir lieber, wohin du mich heute zum Essen ausführst. Ich habe Hunger.« Sie springt auf und während er mit Behagen ihren
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