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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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eine abgekartete Sache? Einer hält ihn hin, die anderen kommen, als harmlose Spaziergänger getarnt, dazu? Ein Überfall? Ein Vergeltungsakt für etwas, das ihm selbst längst entfallen ist? Unbewaffnet wie er ist, hat er gegen drei oder vier keine Chance. Er hört Männerstimmen durch den Nebel auf sie zukommen, Schritte hallen von den Hauswänden wieder. Alles, was mehr als zwei, drei Armlängen entfernt ist, verschwimmt im Dunst. Henry spürt seinen Herzschlag bis in den Hals. Automatisch spannt er seine Muskeln, wappnet sich gegen einen Angriff, einen Schlag oder Tritt. Die Stimmen kommen näher, er versteht einzelne Worte –  Wasser … lenzen … Schaum  – dann sind sie auf gleicher Höhe. Zwei Gestalten, massig und mit dunklen Lederjacken, gehen schnellen Schrittes vorbei, werfen ihnen einen kurzen prüfenden Blick zu, dann schließt sich der Nebel hinter ihnen. Henry dreht sich zu dem Grauhaarigen um – doch der ist fort.
    * * *
    »VW-Veteranentreffen?« Henry hat den Golf mit der hängenden hinteren Stoßstange neben den Polo mit der zerdellten Vorderfront auf dem Weidendammparkplatz abgestellt, wohin er die Journalistin bestellt hat.
    »Eine kleine Autofamilie«, kichert sie. Sie wirkt aufgeregt, glücklich, nervös – alles zugleich, scheint sich ernsthaft einzureden, ihm läge etwas an ihr. »Schön dich zu sehen, Henry.«
    »Steig ein.« Er hält ihr die Tür auf, obwohl es ihm widerstrebt, dieser Person Einlass in sein ganz persönliches Umfeld zu gewähren.  My car is my castle.
    »Wohin fahren wir?«
    »Spazieren.«
    Sie biegen am Bahnhof in die Straße nach Norden, fahren hinaus aus der Stadt, an der wolkenverhangenen Insel Poel und dem Salzhaff vorbei bis nach Rerik, dem kleinen Ort am Meer. Sie reden über Autos, den Verkehr, das für Anfang Juni ungewohnt kühle feuchte Wetter und andere Belanglosigkeiten. In Rerik parken sie auf der Landzunge vor der Halbinsel Wustrow und laufen über die vielen hölzernen Stufen hinauf zum Aussichtsturm auf der Düne. Der feine Sprühregen durchnässt Henry in wenigen Minuten; er lehnt es ab, mit unter ihren Taschenschirm zu kommen. Auf der kleinen überdachten Plattform sind sie allein – es ist definitiv kein Tag für einen Ausflug. Eine Weile stehen sie nebeneinander, der große nachdenkliche Mann und die kleine pummelige Frau mit den Karottenhaaren, schauen hinüber zur unbewohnten Halbinsel mit dem Naturschutzgebiet, über das dunkle Wolkenmassive ziehen. Rechts steht die blaue Strandkorbarmee, ungenutzt vor der leeren Seebrücke aufgereiht, links, am Yachthafen, geistern ein paar vereinzelte Farbkleckse zwischen Restaurants und Souvenirläden herum: hartgesottene Spaziergänger und Fahrradfahrer in Regenmontur.
    Minutenlang fällt kein Wort oben auf der Plattform. Das Schweigen klebt zwischen ihnen. Vom Dach über ihren Köpfen fallen einzelne Regentropfen auf die Holzbrüstung, in einem zerrissenen, unberechenbaren Rhythmus. Henry dreht eine Zigarette und beginnt nach dem ersten Zug zu sprechen. Er hat sich zurechtgelegt, was er sagen wird, um sich diese lästige Verfolgerin in Zukunft vom Hals zu halten. Den Vorfall auf dem Parkplatz wird er mit keiner Silbe erwähnen.
    »Ich möchte dir etwas erklären, Sonja.« Ihr Name fühlt sich in seinem Mund an wie verkohlte Watte. »Ich habe dir vieles aus meinem Leben erzählt. Familie, Arbeit und so weiter. Doch da ist natürlich manches, das du nicht weißt. Es gibt da eine Sache, die mir in all den Jahren keine Ruhe gelassen hat und mich seit meiner Entlassung unablässig beschäftigt.«
    Sie blickt zu ihm auf – er ist zwei Köpfe größer als sie – und er spürt, dass sie ihn anfassen möchte, ihm vielleicht die Hand auf den Arm legen, ihre Wange an seinen Oberarm schmiegen. Doch sie ist sich seiner Reaktion wohl zu ungewiss. So nestelt sie nur an ihrem Schirm und lauscht mit geneigtem Kopf seiner Stimme, offensichtlich gespannt auf sein Geheimnis, bereit zu Mitgefühl, Empathie und Komplizenschaft.
    »Es gibt einen Menschen, dem ich das, was er mit angetan hat, nicht verzeihe – obwohl es schon lange her ist. Der Mann, besser: die Rache an ihm, bedeutet mir sehr viel. Ich werde dir nicht sagen, worum es geht, nur, dass sich meine Gefühle ihm gegenüber während all der Jahre meiner Gefangenschaft nicht gemildert haben. Ich habe die Absicht, ihn zu ruinieren.« Er raucht hastig, starrt weiter hinaus auf das unbewegte Meer. »Pass auf: Die blonde Frau, mit der du mich in der Bar gesehen hast,

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