Sokops Rache
pflückt sich einen Tabakkrümel von der Lippe. Sie wirkt zerknirscht, ihre Stirn hinter den Ponyfransen ist von Falten zerfurcht.
»Henry, ich wollte nicht …«
»Schon gut. Jeder von uns versucht das Beste aus seinem Leben zu machen, wie erbärmlich es auch immer ist. Ich verstehe dich und bitte dich zugleich, Geduld mit mir zu haben. Gib mir Zeit.« Er weiß selbst nicht, woher der Impuls kommt: Mitleid, Berechnung, Lust zu quälen – ob sie oder sich selbst, sei dahin gestellt – der ihn jetzt das tun lässt, auf das sie so lange gewartet hat. Er umfasst ihre Taille mit beiden Armen, blickt ihr tief in die Augen, beugt sich hinunter und küsst ihre Lippen, die sich bereitwillig öffnen. Sie legt den Kopf in den Nacken, presst sich an ihn und er spürt die Welle der Erregung, die durch ihren Körper flutet. Sie erwidert die Umarmung, lässt ihre Hände seinen Rücken hinabwandern, packt seinen Hintern und knetet ihn durch den Jeansstoff hindurch. Wider Willen wird er hart.
Dann ist dieser Moment vergangen, er dreht sich die nächste Zigarette und löscht damit ihr Aroma von seinen Lippen. Sie steigt hinter ihm die Stufen hinab, plappert irgendetwas und er fragt sich, wie gravierend der Fehler ist, den er gerade begangen hat. Auf dem Weg zum Auto wagt sie es, sich bei ihm einzuhängen. Die wenigen Leute, denen sie begegnen, halten sie sicherlich, trotz seiner verschlossenen Miene, für ein Paar. Er sieht den Stolz auf Sonjas Gesicht leuchten. Der Nieselregen lässt auf der Rückfahrt nach Wismar nach, ein paar Sonnenstrahlen brechen von Zeit zu Zeit durch die Wolken. Es ist ein Vabanquespiel, wird ihm bewusst. Frisst sie das Zuckerbrot nicht, muss er die Peitsche einsetzen. Auf dem Parkplatz am Weidendamm hält er neben ihrem Wagen, bleibt hinter dem Steuer sitzen, als sie schon ausgestiegen ist. Beschwingt läuft sie um das Heck des Golfs herum, trommelt dabei mit den Fingerspitzen auf das Blech und beugt sich an der offenen Seitenscheibe zu ihm hinab. Natürlich weiß er, was sie will. Noch immer hat sie nicht genug, will weitere Zugeständnisse und Zärtlichkeiten: Verabredungen, Treffen, Zweisamkeit. Sie zerfließt vor Begehren, weiß aber, dass sie ihn nicht bedrängen darf.
»Vielleicht lädst du mich einmal zu dir ein? Dann bringe ich mein Aufnahmegerät mit. Oder auch einfach nur auf einen Kaffee?« Ihre Stimme hat einen kriecherischen Tonfall angenommen. Er streckt die Hand aus, schaltet das Radio ein. Grauenhaft fröhliche Stimmen branden, unterlegt mit seelenloser Computermusik, aus den Lautsprechern, kündigen irgendein Gewinnspiel an. Dann Nachrichten. Auf dem Weg von Rio de Janeiro nach Paris ist ein Flugzeug der Air France mit 216 Passagieren und 12 Besatzungsmitgliedern an Bord über dem Atlantik abgestürzt. Henry blickt geradeaus auf die sich im Wind wiegenden hohen Pappeln am Rand des Parkplatzes. Ohne hinzusehen schaltet er den CD-Player an und tut so, als überlege er. Left to make my way, told her I can’t stay , singt Julie Driscoll. Die LP seiner Mutter ist längst verloren; in Waldeck hat er sich die Aufnahme als CD besorgt und sie seither wieder und immer wieder abgespielt.
»Wir werden sehen, Sonja.« Er will nur eins: sofort von hier verschwinden, mit Vollgas über die Autobahn rasen, die Fenster offen, alle Spuren ihrer Anwesenheit im Wagen – das süßliche Parfüm, den Geruch nach Haarfärbemittel, die nassen Spuren auf der Fußmatte, das Kaugummipapier auf der Ablage unter der Frontscheibe – vernichten, ganz so, als könne er damit auch ihre Anwesenheit in seinem Leben tilgen. Doch die Sekunden dehnen sich wie Hefeteig.
»Wenn du etwas brauchst, irgendetwas …« Ihre Kleinmädchenstimme bleibt zwischen ihnen in der kühlen feuchten Luft stehen. They are better thinkin’ I’m dead. Julie Driscoll weiß, wie immer, was zählt. Sonja nimmt all ihren Mut zusammen.
»Gib uns eine Chance, Henry.«
Er löst sich aus seiner Erstarrung, blickt sie mit einem Lächeln an, das ihn bis in die Mundwinkel schmerzt.
»Denk dran, Sonja: Wer warten kann, ist stark. Wenn du mich liebst, dann hilfst du mir.«
* * *
Der Wind hat aufgefrischt, zerrt an den Segeln und treibt kleine weiße Schaumkronen über die Wasserfläche. Sie umrunden die Insel Poel bei moderaten fünf Beaufort und genießen im strahlenden Sonnenschein den Am-Wind-Kurs. Henry hat die Pinne übernommen, Weller macht die Deckshand. Sie haben sich aneinander gewöhnt hier an Bord, verstehen sich weitgehend
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