Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Josefines Arm.
»Ich würde dich ja gern einladen, bei uns zu wohnen, aber …« Sie biss sich auf die Lippen. »Unser Leben wird von den Kranken und ihren Bedürfnissen diktiert. Gerhard wird oft in der Nacht gerufen, manchmal auch am Wochenende. Ein Hausgast hätte sicher große Mühe, sich unserem Rhythmus anzupassen.«
»Keine Sorge, es gibt eine Adresse, zu der ich gehen kann«, sagte Josefine mit bemüht leichter Stimme. Als wollte sie ihre Aussage noch untermauern, zog sie den Zettel mit der Adresse in Feuerland aus der Tasche. Sie hatte ihn auf dem Weg hierher nachlässig zusammengeknüllt, im Glauben, ihn nicht zu benötigen.
»Wo ist Frieda?«
»Sie liegt auf dem Kirchhof in der Nähe vom Belle-Alliance- Platz. Alle Anwohner unserer Straße waren bei ihrer Beerdigung, es war sehr feierlich. Ihr Grab liegt unter einer großen Kastanie ganz am äußeren Rand, du findest es bestimmt leicht.«
Mit den müden Bewegungen einer alten Frau stand Josefine auf. »Ich gehe jetzt. Bestimmt laufen wir uns bald mal wieder über den Weg«, sagte sie, ohne ernsthaft daran zu glauben. Was hatte sie hier, in der Görlitzer Straße, noch verloren? Frieda war tot, ihre Eltern wollten sie nicht sehen, Clara und ihr Ehemann waren beschäftigt. Und Isabelle hatte sie sowieso längst vergessen.
Josefine hatte sich ihre Tasche schon über die Schulter geschwungen, als sie fragte: »Wie geht es eigentlich Isabelle?«
Clara öffnete den Mund zu einer spontanen Erwiderung, schwieg dann aber. »Isabelle«, sagte sie schließlich langsam. »Wir haben uns aus den Augen verloren. Sie hat immer so viel zu tun, ist so viel unterwegs, es war schrecklich anstrengend, den Kontakt mit ihr zu halten. Und letztlich verkehren wir doch in unterschiedlichen Kreisen. Ab und zu lese ich in der Zeitung über sie und ihren Verlobten.«
»Sie ist noch nicht verheiratet?«, fragte Josefine mit kratziger Stimme.
Clara schüttelte den Kopf. »Darüber hätte die Zeitung bestimmt auch geschrieben. So wie sie über alles andere berichten – Feste, die Isabelle besucht, oder Gemäldeausstellungen, die sie mit ihrer Anwesenheit beehrt. Die Familie Herrenhus ist inzwischen très à la mode, musst du wissen.« Claras Stimme hatte einen ironischen Unterton bekommen. »Die Zeitung schreibt sogar über den Veloverein, den Isabelle gegründet hat! Ein Veloverein nur für Frauen, kannst du dir das vorstellen?« Sie verzog missbilligend den Mund.
»Isabelle hat was getan? Wann? Und wo?«, fragte Josefine fassungslos und stellte ihre Tasche wieder auf den Boden. Das musste sie genauer wissen.
Clara winkte ab. »Ausgerechnet mit ihrer alten Schulkameradin Irene hat sie sich zusammengetan. Schon vor drei Jahren. Dabei konnte sie Irene doch nie leiden, erinnerst du dich, wie Isabelle immer über die arrogante Fabrikantentochter gelästert hat? Aber nun, da sie mit Irenes Bruder verlobt ist, hat sich das Blatt gewendet. In den besseren Kreisen zu verkehren war Isabelle ja schon immer wichtig. Ein bisschen Arroganz spielt da wohl keine Rolle mehr.«
Josefine entging der spitze Ton in Claras Stimme nicht. Doch welches Fest Isabelle mit wem besuchte, interessierte sie nicht, etwas anderes dafür umso mehr.
»Dieser Veloverein – weißt du, wo er ist?«
Isabelle hatte einen Veloverein für Frauen gegründet … Das war immer ihr Traum gewesen! Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie Frieda davon erzählt hatte. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, hatte die alte Frau zu ihr gesagt: »Dann tu’s!«
Etwas mürrisch nannte Clara ihr die Adresse. »Zugegeben, es ist sehr hübsch dort. Aber wenn du mich fragst – ich finde die ganze Idee doch ein wenig kindisch. Früher, da war das Velofahren eine jugendliche Laune von uns. Aber inzwischen sind wir alle erwachsen. Da sollte man doch glauben, dass Isabelle vernünftig geworden ist, dass sie andere, gereiftere Pläne hat. Gerhard meint auch, es wäre unmöglich, dass sich erwachsene Frauen auf einen Fahrradsattel schwingen. Wenn du ihn hören könntest, würde dir ganz schlecht werden! Es gibt so viele Gefahren beim Velofahren – hätte ich früher Bescheid gewusst, hätte ich es nie gewagt, mich auf solch ein Gefährt zu setzen. Und Gerhard weiß Bescheid, er ist schließlich ein sehr guter Arzt. Der allerbeste, wenn du mich fragst! Gerhard sagt, dass …«
Ohne ein weiteres Wort hob Josefine ihre Tasche auf und ging davon.
Frieda Koslowski. Geboren März 1830. Gestorben
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