Solang die Welt noch schläft (German Edition)
muss möglich sein, Velos günstiger zu produzieren als bisher. Ein Fahrrad für unter hundert Mark – das wär’s! Dann stünde es vielen Menschen mehr zur Verfügung und nicht nur der Oberklasse. Und wenn wir das in Deutschland nicht hinbekommen, dann kann’s vielleicht eine Fabrik in England oder Amerika.«
Josefine schaute Adrian herausfordernd an. »Und warum findest du es nicht einfach heraus?«, fragte sie und hatte dabei das seltsame Gefühl, wie Frieda zu klingen.
Es war Samstagmittag. Erschöpft, aber zufrieden mit ihrer zweiten Woche als ihre eigene Herrin wollte Josefine gerade die Werkstatt abschließen, als sie Oskar Reutter um die Ecke kommen sah. Der Nachbar zog einen Leiterwagen hinter sich her, auf dem sich etwas Großes, Kastenförmiges türmte. Neue Arbeit? Jo seufzte. Sie hatte sich so auf ihren ersten offiziellen Besuch im Veloverein gefreut … Und darauf, eine ganz bestimmte Person zu sehen. Aber Aufträge gingen vor.
Nach einer freundlichen Begrüßung hievte der Kaufhausbesitzer eine schwere Eisentruhe auf Jos Werkbank. Sie erkannte mit einem Blick, dass nicht nur die Bänder gerissen waren, sondern auch das Scharnier. »Ich kann die Bänder im Feuer schweißen. Die alten Nieten werde ich allerdings nicht mehr verwenden können, ich muss neue anfertigen, um die Bänder wieder an die Truhe zu heften. Das kann teuer werden …«
»Die Truhe ist ein Erbstück, ich hänge sehr daran, da spielt Geld keine Rolle«, versicherte ihr der Kaufhausbesitzer und hob ein zweites Teil aus dem Leiterwagen: eine schlichte, aber schöne Wanduhr der Firma Gustav Becker, bei der das Pendel abgebrochen war.
»Unser neues Dienstmädchen ist furchtbar schusselig. Sie hat sich beim Putzen den Rücken an der Uhr gestoßen. Ihr Kreuz ist heil geblieben, die Uhr leider nicht«, erklärte Reutter mit einem Schmunzeln.
Jo untersuchte die Wanduhr, dann sagte sie: »So wie es aussieht, werde ich wohl auch für das Pendel eine neue Aufhängung aus Messing anfertigen müssen.«
Oskar Reutter lächelte. »Das ist mir das gute Stück wert! Weißt du, ich bin zwar der Erste, der sich auch neumodische Dinge ins Haus stellt, aber für mich persönlich haben die alten Sachen ebenfalls noch ihren Reiz.«
»Da sind Sie nicht allein«, sagte Josefine lachend und zeigte auf die Vielzahl alter Gerätschaften, die aneinandergereiht auf dem Boden auf ihre Reparatur warteten. Unauffällig versuchte sie einen Blick auf die vergoldete Uhr zu erhaschen, die sie in Friedas Schmuckschatulle gefunden hatte und die nun an einem Lederband um ihren Hals baumelte.
Oskar Reutter, dem ihr Blick nicht entgangen war, sagte: »Was für ein schönes Stück! Bald wird es Seltenheitswert haben. In meinem Kaufhaus verlangen die Leute immer häufiger nach Uhren, die man an einem Armband befestigen kann. Taschenuhren oder Uhren an einer Halskette sind vielen zu altmodisch .« Er betonte das letzte Wort ironisch. »Aber soll ich dir etwas verraten? Auch ich konnte dieser neuen Mode nicht widerstehen!« Verschmitzt schob er seinen Jackettärmel nach hinten und präsentierte Josefine eine goldene Uhr an einem braunen Lederband.
»Wie praktisch! Das wäre genau das Richtige fürs Velofahren«, sagte Jo bewundernd. »Am besten nehme ich Friedas Uhr gleich vom Hals, sonst bleibe ich später noch mit dem Lederband am Lenker hängen.«
»Das Velofahren …«, sagte Oskar Reutter langsam. »Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, ob es nun ein Fluch oder ein Segen ist.«
»Wollen Sie noch kurz mit ins Haus kommen? Ich habe frische Limonade«, sagte Josefine. Verein hin oder her – wenn Oskar Reutter sich unterhalten wollte, gern! Er war ihr nicht nur als Kunde wichtig, sondern auch als Nachbar und Freund – und es gab langweiligere Themen als das Velofahren.
Sobald sie sich an Friedas altem Küchentisch niedergelassen hatten, nahm der Kaufhausbesitzer seinen Faden wieder auf. »Wir leben in spannenden Zeiten, alles wandelt sich. Die Bedürfnisse der Menschen, die Produkte, die in den Fabriken hergestellt werden – den alten Kram von vorgestern will heute niemand mehr. Du willst ein Beispiel hören? Der Pferdehändler hinterm Lausitzer Platz war gestern bei mir, er hat seinen Laden dichtgemacht, wie er es ausdrückte, und zieht nun aufs Land zu seiner Schwester, um auf dem Gut ihres Mannes als Verwalter zu arbeiten. Da immer mehr Pferdedroschkenunternehmer und Kutscher ihren Beruf aufgeben, bekam er seine Klepper nur noch mühsam los. Und das
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