Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Erinnerst du dich nicht daran, wie wir fürs Velofahren schon vor Jahren einen Rock zur Hose umgenäht haben? Lilo, Isabelle und – ach nein, daran kannst du dich gar nicht erinnern«, verbesserte sie sich im nächsten Moment. »Damals lagst du Arme mit gebrochenem Bein im Krankenhaus. Wenigstens habt ihr beiden euch dort kennengelernt …« Mit einem erwartungsvollen Lächeln schaute sie Claras Ehemann an. »Schön, dass wir uns nun auch endlich kennenlernen«, sagte sie und streckte dem Arzt die Hand entgegen.
Gerhard Gropius schaute sie so angewidert an, als habe er einen Schädling vor sich. Dann wandte er sich an Clara:
»Manche Weibspersonen haben keinen Funken Ehrgefühl im Leib, eine Schande ist das! Ich hoffe doch sehr, du weißt entsprechenden Abstand zu halten.« Grob zog er sie am Arm weiter.
Perplex ließ Josefine ihre Hand sinken. Was war denn das gewesen?
Als sie endlich bei der Rennbahn ankam, war es schon fünf Uhr am Nachmittag. Sie stellte ihr Velo an der Hausmauer ab und hielt mit klopfendem Herzen Ausschau nach Adrian – sie wollte ihm unbedingt von ihrem Gespräch mit Oskar Reutter erzählen. Doch an diesem späten Samstagnachmittag war nicht mehr viel los auf dem Vereinsgelände. Einige verschwitzte Fahrer verließen gerade die Rennbahn, die sogleich von ein paar Frauen in Beschlag genommen wurde. Zwei ältere Herren in Straßenkleidung waren auf dem Weg Richtung Ausgang, sonst war niemand zu sehen. Es war das Pfingstwochenende, viele Berliner nutzten das schöne Wetter, um aufs Land zu fahren, hatte Oskar Reutter ihr erklärt. Auch eine neue Mode!
Hatte Adrian die Stadt ebenfalls verlassen? Womöglich mit Isabelle?
Mit düsterer Miene betrat Jo das Damenvereinsheim. Ihre Enttäuschung wurde noch größer, weil sie ihre sorgfältig vorbereiteten Worte, mit denen sie sich vorstellen und ihren Dank für die Aufnahme in den Verein aussprechen wollte, nicht loswurde – es war niemand da, der ihr hätte zuhören können.
Verdrossen verließ Jo den Vereinsraum, dann schob sie ihr Velo auf die Rennbahn. Dafür war sie schließlich hier.
Es war ein aufregendes, neues Gefühl, die erste Runde auf dem glatten Oval zu drehen. Der Untergrund war gefährlich schnell, die engen Kurven ungewohnt, aber nach wenigen Minuten fand Jo ihren Rhythmus dennoch. Bald waren ihre Gedanken an die seltsame Begegnung mit Clara und ihrem Ehemann, an Adrian, Isabelle und den Rest der Welt wie weggeblasen – das rasante Fahren machte immensen Spaß! Obwohl sie das Fahren als nicht anstrengend empfand, klopfte ihr Herz hart gegen die Brust. Sie versuchte, tiefer ein- und auszuatmen, so, wie sie es tat, wenn sie eine ansteigende Straße hochradelte. Doch statt sich zu beruhigen, schlug ihr das Herz bald bis zum Hals hinauf. Ein leichter Schwindel überfiel sie, ihr war, als hätte sie Putzwolle im Kopf. Auf einmal fühlte sie sich unsicher auf dem Velo.
»Das gibt’s doch nicht«, murmelte sie vor sich hin. Widerstrebend ließ sie ihr Rad auf der langen Geraden auslaufen. An die Bande gelehnt schaute sie den Fahrerinnen zu, die schon vor ihr dort gewesen waren. Sie radelten noch immer in hohem Tempo scheinbar mühelos dahin, ja, sie unterhielten sich zeitweise sogar miteinander! Hatte sie wirklich so wenig Ausdauer? Mit Adrian auf dem Weg zum Nordhafen hatte sie doch auch mithalten können!
»Etwa schon erschöpft?« Lächelnd hielt eine der Fahrerinnen neben ihr an. Es war Luise Karrer. Sie reichte Jo eine behandschuhte Hand. »Herzlich willkommen im Verein. Habe schon gedacht, du lässt dich gar nicht mehr blicken.«
»Ihr habt ja eine gehörige Portion Ausdauer – wie macht ihr das nur?«, fragte Jo, nachdem auch sie sich offiziell vorgestellt hatte.
»Häufiges und ausdauerndes Training«, erwiderte Luise lapidar. »Das Fahren auf der Bahn folgt anderen Gesetzen als das Straßenfahren. Oder sagen wir mal, hier treten Schwächen schneller zutage, weil du unmittelbar im Vergleich mit anderen stehst.«
Josefine nickte. Aus dieser Warte hatte sie die Angelegenheit noch nicht betrachtet.
»An deinem Velo kann es jedenfalls nicht liegen«, sagte die ältere Fahrerin und strich bewundernd über den schwarz lackierten Rahmen des Roadster. »Und dein Aufzug ist auch schnittig genug.«
Josefine lachte bitter auf. »Du hättest mal die Kommentare meiner Nachbarn hören sollen, als sie mich in Hosen aus dem Haus kommen sahen.«
»Kleinbürger! Ich finde dich très à la mode«, sagte eine zweite Fahrerin,
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