Solang die Welt noch schläft (German Edition)
die sich nun ebenfalls zu ihnen gesellt hatte. Sie selbst trug ein schmal geschnittenes und sehr elegantes Hosenkleid. »Mein Name ist Chloé, ich bin die Frau von Freddy Stich«, sagte sie mit französischem Akzent. Erwartungsvoll schaute sie Josefine an.
Als sich Jo lediglich ihrerseits vorstellte, sagte Luise: »Freddy Stich ist einer unserer berühmtesten Rennfahrer, wenn nicht sogar der berühmteste!«
Jo machte ein peinlich berührtes Gesicht. »Über solche Dinge weiß ich leider gar nicht Bescheid, verzeiht mir. Und über die richtige Art zu trainieren anscheinend auch nicht. Ich schwitze und schnaufe, ihr jedoch wirkt trotz eures viel größeren Fahrpensums geradezu ausgeruht.«
»Eine Dame schwitzt doch nicht«, erwiderte Chloé mit hochgezogenen Brauen.
Alle drei lachten. Nachdem sie ihre Velos in einen Unterstand gebracht hatten, gingen sie einträchtig ins Vereinsheim. Wieder hielt Josefine Ausschau nach Adrian – vergeblich.
»Deine Freundin Isabelle ist eine sehr gute Fahrerin. Und eine sehr geübte obendrein, bestimmt wird sie dir gern ein paar Ratschläge zum Bahntraining geben«, sagte Luise, kaum dass sie bei einer Tasse Kaffee zusammensaßen.
»Ratschläge!« Chloé winkte ab. »Der eine schwört auf viel Schlaf. Der Nächste auf nährende Speisen wie Kartoffeln und Fleisch. Der Übernächste hält eine völlige Alkoholabstinenz für nötig, um auf der Rennbahn gute Leistungen zu erbringen. Und dann gibt es welche wie meinen Freddy, der jedes Mal, bevor er sein Velo besteigt, gymnastische Übungen macht, um seine Muskeln zu dehnen. Und vor großen Rennen nimmt er sogar ein Abführmittel, um seinen Körper innerlich zu reinigen und so auf die große Strapaze vorzubereiten.« Sie verdrehte die Augen, um zu zeigen, was sie von dieser Trainingsmethode hielt. »Ich sage, jeder muss selbst herausfinden, was das Richtige für ihn ist. Ein Glas Champagner am Abend oder auch schon am Morgen hat mir jedenfalls noch nie geschadet.«
»Ein Glas Champagner in allen Ehren – aber du kannst wohl nicht abstreiten, dass ein gesunder und regelmäßiger Lebenswandel Voraussetzung für erfolgreiches Fahren ist«, erwiderte Luise. Sie stellte ihre Kaffeetasse mit einem Klirren ab und wandte sich an Josefine. »Ich werde dir sagen, was nötig ist, um ausdauernd auf der Bahn fahren zu können: zehn Stunden Nachtschlaf, gesunde, abwechslungsreiche Speisen, ein kleiner Mittagschlaf, damit sich der Körper zwischendurch regenerieren kann, ein kleiner Spaziergang, um die Muskeln zu lockern – nur unter diesen Bedingungen kannst du anschließend Stunde um Stunde auf der Rennbahn fahren.«
Josefine – die erst um Mitternacht ins Bett gekommen, dafür aber schon um sechs am Morgen wieder aufgestanden war, die seit Tagen an ihrem Topf Kartoffelsuppe aß, deren Kreuz vom gebückten Arbeiten an der Werkbank schmerzte und die mit Oskar Reutter noch ein Schnäpschen zum Abschied getrunken hatte – nickte kläglich.
»Was ist denn das?«, fragte sie und wies auf eine Zeitschrift, die sie aus dem Augenwinkel schon länger im Visier hatte. Ihr Ablenkungsmanöver funktionierte, denn Luise Karrer sagte: »Das ist die Draisena , die erste Zeitschrift, in der es ums Damen-Radfahren geht. Das Exemplar ist gestern druckfrisch aus Dresden angekommen. Und nach dem ersten Durchblättern muss ich sagen, dieses neue Blatt gefällt mir sehr gut.«
»Gibt es auch Fotografien und Bilder in dem Heft?«, fragte Chloé und riss Jo die Zeitung aus der Hand.
Jo schaute der Vereinskollegin über die Schulter, während diese Seite um Seite umblätterte. Fotografien gab es nicht, dafür umso mehr schöne und teilweise auch sehr lustige Illustrationen.
»Die Radlerin im Lichte der Gesellschaft« hieß ein langer Artikel, in dessen Unterüberschrift der Autor die Frage stellte: »Fahren die Industriellengattin und ihre Köchin bald Seite an Seite?« Begleitet wurde der Text von einer Art Karikatur, in der eine fein kostümierte Dame und deren dicke Köchin mit Schürze dieselbe Straße entlangradelten.
Luise Karrer lachte. »Wenn das Isabelle sieht …«
»Oder Irene«, fügte Chloé hinzu.
»Ein Veloausflug aufs Land« hieß ein anderer Artikel. Beim Überfliegen der Zeilen musste Jo schmunzeln – sie waren in der Art eines Schulaufsatzes geschrieben.
»Frische Luft und leichte Bewegung verhelfen jeder Radlerin zu mehr Gesundheit«, stand ein paar Seiten weiter. Das Blatt war gespickt mit unzähligen Annoncen: Werbung für
Weitere Kostenlose Bücher