Solang die Welt noch schläft (German Edition)
ist nur der Anfang!« Der alte Mann holte kurz Luft, dann sprach er weiter: »Die ganze Gesellschaft ist im Umbruch. Es bedarf schon einer guten Beobachtung, um das alles im Auge zu behalten. Manchmal kommt mir unsere Welt vor wie ein Karussell auf dem Jahrmarkt, das sich immer schneller dreht und dreht und dreht … Und das Velofahren hat einen nicht unerheblichen Anteil daran.«
»Aber das betreiben doch nur die wenigsten, wie kann es also die Gesellschaft verändern?« Josefine schenkte aus einem Krug Limonade in zwei Gläser. Eins davon schob sie ihrem Gast hin.
»Oh, da trügt dich dein Eindruck aber, es gibt wesentlich mehr Velofahrer als noch vor drei, vier Jahren! Vielleicht nicht hier bei uns im Viertel, aber ein paar Ecken weiter schon.« Dankend nahm der Kaufhausbesitzer das Limonadenglas entgegen. »Ich muss es wissen, denn sie kommen schließlich in Scharen zu mir ins Kaufhaus und verlangen nach sportlichen Kappen statt nach eleganten Hüten. Sie wünschen Jacken mit vielen Taschen statt Fracks aus feinem Zwirn. Meine Zigarren lassen sie links liegen – die würden der Gesundheit schaden, hat mir erst gestern ein junger Herr erklärt. Meine Zigarren – der Gesundheit schaden?« Oskar Reutter sah so indigniert drein, dass sich Josefine ein Schmunzeln verkneifen musste.
»Noch vor ein, zwei Jahren kamen oft junge Ehepaare zu mir, um ein Piano zu kaufen. Oder eine schöne Wanduhr aus Kirschbaumholz. Oft musste ich mich auf eine Ratenabzahlung einlassen, aber das habe ich immer gern getan. Heute jedoch? Da möchte sich der junge Ehemann lieber ein Velo zulegen. Dass sein Hausstand dafür umso karger eingerichtet ist, nehmen er und die Dame des Hauses billigend in Kauf.«
Josefine runzelte die Stirn. »Aber Velos sind noch immer teuer!«
Oskar Reutter zuckte mit den Schultern. »Wem sagst du das? Trotzdem finden die Menschen alles, was mit dem Veloziped zusammenhängt, faszinierend. Sogar faszinierender als den lieben Gott. Pfarrer Hohenheim von der Sankt-Petrus-Kirche hat mir erzählt, dass manche Reihe in seiner Kirche sonntags leer bleibt, sobald irgendwo in der Stadt ein ›wichtiges‹ Velorennen stattfindet.«
»Dann gehen die Leute lieber auf die Rennbahn als in die Kirche?«
Der Kaufhausbesitzer grinste. Er schien sich an Josefines Ungläubigkeit regelrecht zu erfreuen. Er trank einen großen Schluck Limonade und sagte nach einer Kunstpause: »Weißt du, was Herrmann Fälscher, der Besitzer der Buchhandlung am Lausitzer Platz, mir erzählt hat? Er beklage heftige Umsatzeinbußen, weil die Leute in ihrer freien Zeit lieber zur Velobahn gehen und den Fahrern zuschauen, statt ein Buch in die Hand zu nehmen.«
Josefine war sprachlos. Ob Adrian das alles wusste? Es hörte sich gerade so an, als würde die Zukunftsmusik, von der er gesprochen hatte, schon längst gespielt!
Hektisch zerrte Jo ihren Roadster aus der Werkstatt, wo sie ihn über Nacht stets abstellte. Mit einer Hand zog sie die Werkstatttür zu, mit der anderen hielt sie den Roadster fest. Die Haustür! Hatte sie daran gedacht, sie abzuschließen? Umständlich bugsierte sie das Rad nochmals in Richtung Haus zurück. Durch Oskar Reutters Besuch und seine Ausführungen über den Wandel der Zeit war sie nicht nur sehr spät dran, sondern allem Anschein nach auch etwas verwirrt.
Sie wollte sich gerade aufs Rad schwingen, als sie Clara am Arm eines großgewachsenen Mannes die Straße entlangkommen sah. Seit Claras und Isabelles Besuch hatte sie die Freundin nicht mehr gesehen, und das, obwohl sie nur ein paar Häuser weiter wohnte. Wenigstens bekam sie nun auch den Herrn Doktor einmal zu Gesicht, versuchte sich Jo die neuerliche Verzögerung schönzureden. Der Mann war wirklich sehr attraktiv, kein Wunder, dass sich Clara Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Doch die Freude über das Zusammentreffen mit ihr währte nicht lange.
»Josefine!«, rief Clara grell. Kein Wort der Begrüßung, der Ehemann wurde nicht vorgestellt. Mit spitzem Finger zeigte sie auf Josefines Beine. »Da … Wie läufst du denn herum?«
Ein Fleck? Maschinenöl? Unsicher schaute Jo nach unten. Ihre braune Lederhose war makellos.
»Du trägst Hosen?« Claras Stimme hatte einen noch schrilleren Klang angenommen, sie schien sich am Arm ihres Mannes regelrecht festzuklammern.
»Ich bin auf dem Weg in den Veloverein, und beim Radfahren ist ein Rock nun einmal sehr gefährlich.« Stirnrunzelnd schüttelte Jo den Kopf. »Was schaust du so entsetzt drein?
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