Solang die Welt noch schläft (German Edition)
schmiegte und ihre schlanke Statur betonte. Außerdem hob sich das Blau perfekt von ihren inzwischen wieder seidig glänzenden blonden Haaren ab, die sie lediglich in einem weichen Pferdeschwanz zusammengenommen hatte. Bei einem letzten Blick in den Spiegel war Josefine sehr zufrieden mit ihrem Aussehen gewesen. Doch unter Adrians Blick begann ihr Selbstbewusstsein zu bröckeln.
»Ich finde dein Ensemble sehr chic, wenn auch etwas … gewagt«, erwiderte Adrian grinsend. »Luise Karrer aus dem Verein trägt übrigens auch Hosen, wenn sie auf der Rennbahn Velo fährt – allerdings glaube ich kaum, dass sie sich dies auch auf den Berliner Straßen trauen würde. Und sie würde nie so hübsch aussehen wie du.«
Josefine strahlte auf. »Seien wir doch ehrlich – es ist die einzige Möglichkeit, ernsthaft Velo zu fahren«, sagte sie so nüchtern wie möglich. »Ich habe schon vor Jahren beim Velofahren Hosen getragen, damals versteckte ich mein Gesicht allerdings unter einem tief in die Stirn gezogenen Männerhut. Und manchmal …« – sie lachte verschämt – »habe ich mir mit einem Kohlestückchen sogar einen Bart gemalt, damit mich die Leute auf der Straße auch wirklich für einen Mann halten.«
»Männer tragen Hosen und Frauen die Röcke, so ist das nun einmal«, sagte Adrian in einem Ton, als hielte er damit das Thema für beendet.
»Das mag für die meisten Leute zutreffen«, erwiderte Josefine. »Aber ich ziehe an, was mir gefällt. Solltest du dich daran stören …« Und wenn sie Adrian noch so anziehend fand – besser, er wusste gleich über sie Bescheid!
»Und du tust , was dir gefällt. Das musst du mir nicht auch noch sagen«, bemerkte Adrian ironisch, und sie lachten zusammen.
Ohne über Wegstrecke oder Ziel gesprochen zu haben, fuhren sie los.
Ihre Fahrt führte sie quer durch die Stadt. Adrian, der vorausfuhr, hielt das Tempo gleichmäßig hoch, ohne dabei übermäßig schnell zu fahren. Ein paarmal schaute er nach hinten, um sich davon zu überzeugen, dass Josefine noch bei ihm war. »Alles in Ordnung?«
Jo nickte, während sie tief ein- und ausatmete. Sie musste sich ziemlich anstrengen, um mit Adrian mithalten zu können, doch das hätte sie ihm nie gesagt. Ihre Waden brannten, und krampfhaft suchte sie nach einem interessanten Gesprächsthema. Bestimmt hielt Adrian sie für eine langweilige Kuh, wenn sie weiter stumm wie ein Fisch vor sich hin radelte! Doch bald merkte sie, dass es nicht nötig war zu reden, und sie entspannte sich.
Am Humboldthafen bog Adrian nach Norden ab, und sie fuhren ein Stück den Schifffahrtskanal entlang. Das Wasser glänzte an diesem Morgen so blau wie der Himmel, der Uferweg wurde von etlichen Bänken gesäumt und war sehr gepflegt. Ein paarmal mussten sie sich unter tiefhängenden Weidenbüschen hinwegducken, ansonsten war der Weg gut befahrbar.
Adrian zeigte nach rechts. »Dort hinten wohnt meine Familie«, sagte er.
Josefine wandte den Blick über den Kanal. Weiße Villen hinter prachtvoll geschmiedeten Gartenzäunen, weitläufige Anwesen mit Gärtnerhäuschen und Teepavillons und mehrstöckige Prachtbauten reihten sich in lockerer Folge aneinander. Hier residierten die wahren reichen Familien von Berlin, hatte Isabelle ihr erklärt, als sie eines Morgens durch das Viertel gefahren waren.
»Ich hingegen bewohne ein kleines Appartement in der Stadt«, sagte Adrian. »Es liegt sehr zentral, direkt hinter dem Reichspostamt, in einem Mietshaus, das meiner Familie gehört.«
Warum erzählte er ihr das alles?, fragte sich Josefine.
Am Nordhafen hielten sie an. »Hast du Hunger? Hier gibt es ein sehr deftiges Morgenmahl«, sagte Adrian und zeigte auf eine rustikale Hafenkneipe, in der trotz der frühen Stunde schon ein reges Kommen und Gehen herrschte.
Jo, die am Vorabend vor lauter Näharbeiten nicht zum Essen gekommen war, nickte nur.
»Schaut euch mal die da an!«, sagte einer der Hafenarbeiter und wies in Jos Richtung. »Da hat eene wahrlich die Hosen an …«
Adrian grinste.
Jo folgte ihm mit hoch erhobenem Kopf in die Wirtschaft, ohne sich um die Blicke der Hafenarbeiter und deren anzügliches Gemurmel zu kümmern. Nachdem sie an einem etwas schmuddeligen Tisch am Fenster Platz genommen hatte, ging Adrian zur Theke. Kurze Zeit später kam er mit zwei Blechbechern voll dampfendem Milchkaffee und einem großen Teller belegter Brötchen zurück. Mettbrötchen mit Zwiebelringen, geräucherte Sprotten mit Zwiebelstückchen, Heringsbrötchen
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